Herr Frischmuth, wie fängt man nach einer solchen Katastrophe überhaupt an zu helfen?
Michael Frischmuth: Bei Naturkatastrophen wirkt das klassische Szenario der Katastrophenhilfe: Wir haben in den ersten Tagen und Wochen nur dafür zu sorgen, Menschenleben zu retten. Die Menschen werden ausgestattet mit Nahrungsmitteln, mit Trinkwasser, mit provisorischen Unterkünften, auch mit Kleidung – mit all dem, was in den zerstörten Häusern verloren gegangen ist.
Frischmuth: Das sind Aspekte, mit denen man sich als Helfer vor Ort nur am Rande beschäftigen kann. Wir müssen die Hilfsgüter beschaffen, in die Dörfer vordringen, müssen uns um logistische Fragen kümmern. Gerade in Nepal war die Logistik eine große Herausforderung, es ist ja ohnehin eine schwierige Region und jetzt waren auch noch die wenigen Zugangsstraßen zerstört und Brücken nicht mehr passierbar, so dass vieles über Helikopter abgewickelt werden musste. Das heißt, man hat als Helfer vor Ort ganz andere Schwerpunkte zu setzen als sich um individuelle Schicksale zu kümmern und zu sehen, wie die Menschen mit ihrer unmittelbaren Trauer fertig werden. Was wir aber tun können als Hilfsorganisation, ist, längerfristig psychologische Arbeit zu leisten. Auch sehen wir in der Katastrophenvorsorge ein indirektes Instrument, den Menschen bei ihren psychologischen Traumata zu helfen, indem wir sie einfach besser auf zukünftige Katastrophen vorbereiten.
Stellen Sie sich bei einer solchen Katastrophe manchmal Fragen wie: "Warum lässt Gott so etwas zu?"
Frischmuth: Nein. Das ist vergleichbar mit einem Arzt. Der stellt sich auch nicht die Frage: Wieso werden Menschen krank? Das ist nicht unsere Aufgabe, zu hinterfragen, warum das hier passiert ist, sondern unsere Aufgabe ist es, den Menschen überleben zu helfen und ihnen wieder eine Zukunft zu geben.
Was konnte die Diakonie Katastrophenhilfe bisher für die Menschen in Nepal tun?
Frischmuth: Wir sind ja eine Organisation, die über Partnernetzwerke arbeitet, und in Nepal haben wir ein sehr gutes Partnernetzwerk, auch dank unserer Schwesterorganisation Brot für die Welt. Wir spezialisieren uns nicht nur auf einen Sektor, sondern wir machen sozusagen das, worin die Partner eine besondere Expertise haben. In Nepal haben wir besonders viel im landwirtschaftlichen Bereich getan, haben Saatgut verteilt, was ja relativ schnell passieren musste, schon im Juni, damit noch rechtzeitig ausgesät werden konnte. Zweiter Schwerpunkt war die Trinkwasserversorgung, die ohnehin in Nepal auch vor dem Erdbeben gerade in ländlichen Regionen nur sehr rudimentär vorhanden oder in einem schlechten Zustand war, sie musste also instand gesetzt werden. Das sind die beiden Bereiche, in denen wir mit den Partnern sehr schnelle und gute Ergebnisse erzielt haben.
###galerie|133801|"Das Leben in den Wellblechhütten ist hart"###
Der dritte klassische Schwerpunkt, in dem wir bei Naturkatastrophen immer arbeiten, ist der Wiederaufbau der Privathäuser. Aber es ist eine Tatsache, dass bis heute in Nepal noch kein Privathaus wiederaufgebaut werden konnte aufgrund der innerpolitischen Spannungen. Es gab Schwierigkeiten, eine Wiederaufbaubehörde zu installieren, die dann die Richtlinien erlässt, wie aufgebaut werden soll. Das hat sich ja alles über Monate hingezogen, so dass wir jetzt gerade dabei sind, uns offiziell die Genehmigungen geben zu lassen für die Wiederaufbauprojekte. Erst jetzt, ein Jahr nach dem Erdbeben, können wir mit dem Bau von Häusern anfangen.
Habe ich das richtig verstanden: Noch kein einziges Privathaus ist wiederaufgebaut worden?
Frischmuth: Nicht von Hilfsorganisationen, nein. Die Menschen haben sich natürlich selbst geholfen, das ist klar. Nach dem Erdbeben gibt es Nothilfe-Kits, so dass man provisorische Unterkünfte bauen konnte, das ist auch im großen Umfang passiert. Aber der Anspruch ist ja, wieder feste und vor allem erdbebensichere Häuser zu bauen. Der nepalesische Staat beansprucht für sich die zentrale Koordination, was im Prinzip ja auch sein gutes Recht und auch gar nicht schlecht ist, doch es gab eben Konflikte. Erst jetzt sind erst die Baupläne für die erdbebensicheren Modellhäuser fertig, und alle Projekte müssen von nepalesischen Behörden genehmigt werden, man darf nicht einfach anfangen. In dem Prozess stecken wir gerade drin. Neben den innerpolitischen Problemen gab es ja außerdem die Grenzblockade, die über ein halbes Jahr gedauert und den Wiederaufbau nicht gerade beschleunigt hat, weil kein Treibstoff mehr ins Land gekommen ist.
Das stelle ich mir einigermaßen frustrierend vor: Sie sind da, Sie wollen helfen, Sie haben Partner – und dann dauert das so lange…
Frischmuth: Das ist unsere große Frustration und auch die unserer Partnerorganisationen. Man ist ja nicht zum ersten Mal nach einem Erdbeben oder nach einer Naturkatastrophe tätig, und im Prinzip hat man die Baupläne ja in der Schublade. Natürlich muss man die Häuser nach gewissen lokalen Gegebenheiten anpassen: Was sind die Menschen gewohnt? Welche Baumaterialien gibt es vor Ort? Das ist relativ leicht zu adaptieren. Aber auf die internationalen Organisationen hat die nepalesische Regierung nicht unbedingt gehört, sondern wollte ihre eigenen Pläne durchsetzen.
Gab und gibt es genügend Spenden für Nepal? Auch aus Deutschland?
Frischmuth: Ja, die Spendeneinnahmen waren für die Diakonie Katastrophenhilfe sehr gut. Sonst könnten wir auch gar nicht in solche Sachen wie den Wiederaufbau von Privathäusern einsteigen. Ein Haus wird etwa 4000 Euro kosten, und zurzeit sind 420 Stück geplant. Damit sind wir ja schon bei knapp 1,7 Millionen Euro allein für die Häuser.
Frischmuth: Ja, das muss so sein. Es muss der Anspruch eines Landes selbst und auch der internationalen Hilfsorganisationen sein, dass es unter dem Stichwort "building back better" läuft. Die Chance ist groß, weil Aufmerksamkeit auf dem Land liegt, weil finanzielle Ressourcen da sind, die sonst nicht da sind, weil internationale Expertise vor Ort ist, weil durch die internationale Präsenz eine gewisse Kontrollfunktion vor Ort vorhanden ist – was passiert eigentlich genau mit dem Geld? Deswegen haben wir ja auch weiterhin ein Büro in Kathmandu, damit wir genau hinschauen können. Das erdbebensichere Bauen - das ist ja der große Knackpunkt - wird mit Sicherheit bei ähnlichen Katastrophen in der Zukunft viele Menschenleben retten können. Auch deswegen wollen wir noch mehrere Jahre in Nepal bleiben: um Menschen in Projekten auf zukünftige Katastrophen besser vorzubereiten. Die Katastrophen kann man nicht verhindern, aber man kann die negativen Auswirkungen auf die Menschen, auf ihren Besitz und ihre Einkommensmöglichkeiten reduzieren.