Darf oder muss ich sogar Mitgefühl mit einem Menschen wie Andreas L. haben, der selbst unermessliches Leid über andere gebracht hat?
Ja, ich kann Mitgefühl mit einem Menschen haben, der unbestritten Schlimmes getan hat. Ich kann die Tragik seiner Erkrankung und seines Leidens anerkennen, ohne dabei das unermessliche und unvorstellbare Leid, das er anderen zugefügt hat, in Frage zu stellen oder zu relativieren. Das Mitgefühl mit den Opfern und Angehörigen seiner Tat wird dadurch nicht geschmälert. Trotzdem führt der christliche Ansatz dazu, auch zu den Tätern zu gehen. Aufgaben wie Gefängnisseelsorge beispielsweise wären ohne diesen Gedanken schlichtweg unmöglich. Mitgefühl ist ein christlicher Wert an sich. Allerdings ist es selbstverständlich auch eine Haltung, die sich nicht diktieren, erzwingen oder von anderen herbeiführen lässt. Um es ganz klar zu sagen: Kein Mensch muss Mitgefühl mit einem Täter entwickeln. Aber erlaubt ist es.
Muss ich als Christ einem Menschen wie Andreas L. seine Taten verzeihen?
Zunächst einmal kann ich jemandem nur etwas verzeihen, das er mir auch angetan hat. Im Beispiel von Andreas L. könnte ich als Nicht-Betroffener ihm höchstens verzeihen, dass er beispielsweise eine erhöhte Flugangst bei mir ausgelöst hat.
Bin ich allerdings unmittelbar oder mittelbar Opfer seiner Tat geworden, lautet die nächste Frage: Bittet er denn überhaupt um meine Verzeihung? Bereut er, was er getan hat? Möchte er überhaupt Vergebung? Und, dem vorangestellt: Ist ihm überhaupt bewusst, was er mir (und anderen) angetan hat? An dieser Stelle ist es zum Beispiel auch wichtig zu fragen, inwieweit seine Erkrankung dieses möglicherweise verhindert.
Gibt es aber Reue und die Bitte um Ent-Schuld-igung, um Vergebung, gibt es allerdings immer noch keine Pflicht dazu, dieser Bitte auch sofort nachzukommen. Niemand muss entgegen seinen Gefühlen verzeihen, auch als Christ nicht. Wut und Zorn sind in der Regel unabwendbare Gefühle und unerlässlich, um das Erlittene überhaupt zu verarbeiten.
Allerdings gibt es auch die Erfahrung, dass es ab einem bestimmten Zeitpunkt gut tun kann, zu vergeben. Das ist nicht nur eine christliche Überzeugung. Es erleichtert und befreit, eine derartige Last von sich werfen zu können. Es kann helfen, einen Trauerprozess zu durchschreiten und mit tiefen Verletzungen klar zu kommen. Dies ist ein Grund, warum Christen im Vaterunser nicht nur um die Vergebung der eigenen Schuld bitten, sondern auch um die Fähigkeit, Schuld zu vergeben.
Wird Gott auch einem Menschen wie Andreas L seine Sünden vergeben?
Andreas L. hatte keine Zeit für Reue oder gar dafür, um Vergebung zu bitten. Das macht es den Hinterbliebenen seiner Opfer besonders schwer, mit seiner Schuld umzugehen. Nach christlicher Vorstellung erwartet ihn aber – wie jeden anderen Menschen auch – das Jüngste Gericht, bei dem er für seine Taten gerade stehen muss. Es ist ein guter Gedanke, wenn man sich vorstellt, dass er in diesem Moment die Tragweite seiner Taten vollständig begreifen wird. Vor dem Richterstuhl Jesu zu stehen und komplett zu begreifen, was man getan hat, das kann allertiefste Reue bewirken.
Dann aber kann ihm vergeben werden, und wer wären wir, dass wir Gott vorschreiben wollten, ob er Andreas L. vergibt oder nicht! Gottes Gerechtigkeit ist grundsätzlich anders als unsere menschliche – und mitunter auch schwer zu begreifen. Aber das ist ein Glück, denn sonst könnte niemand vor seinem Gericht bestehen.