Blogger Raif Badawi
Foto: imago/Christian Ditsch
Demonstranten fordern vor der Saudiarabischen Botschaft in Berlin Freiheit für den Blogger Raif Badawi.
"Die Wahabiten sind weitgehend humorlos"
Hintergrund zum Fall des saudischen Bloggers Raif Badawi
An dem regime- und religionskritischen Blogger Raif Badawi will der Staat Saudi-Arabien offenbar ein Exempel statuieren: Badawi ist zu 1.000 Stockhieben verurteilt worden. Hintergrund dafür ist der tiefe Zwiespalt des Landes zwischen Moderne und Wahabismus. Am 1. April erscheint ein Buch mit Texten von Raif Badawi.

Der Blogger Raif Badawi nimmt kein Blatt vor den Mund. Die Medien in seinem Heimatland Saudi-Arabien sind alles andere als frei. Deshalb hat er seine Kritik am saudischen Establishment im Internet geäußert - in einem eigenen Blog. Badawi gründete 2008 gemeinsam mit der Frauenrechtlerin Souad al-Shammari das Liberals Network, ein Netzwerk von liberalen Saudis, die auf einen sozialen und politischen Wandel hinarbeiten. Badawi schreibt: "Sobald ein Denker beginnt, seine Ideen auszusprechen, wird er in hunderten Fatwas angeklagt, ein Ungläubiger zu sein, weil er den Mut hat, Religionsfragen zu diskutieren." Oder er äußert sich positiv über den modernen liberalen Staat: "Für mich bedeutet Liberalismus einfach leben und leben lassen. Das ist ein prächtiger Slogan."

 

Badawis Gedanken und Ideen widersprechen diametral der Gesellschaftsform, in der er lebt. Saudi-Arabien ist die Heimstatt des so genannten Wahabismus, einer besonders strengen islamischen Auslegungstradition, die dort seit dem 18. Jahrhundert vorherrscht. "Die Vertreter des Wahabismus wollen zu einer idealisierten Urgesellschaft zurück, wie sie sie glauben im 7. Jahrhundert in Mekka und Medina identifizieren zu können", erklärt Guido Steinberg, Islam- und Nahostexperte in der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik. "Sie behaupten, dass sie in der Gegenwart möglichst getreu den Vorgaben des Propheten und seiner Gefährten leben und dass sie deswegen ganz besonders gottgefällig leben."

Zurück ins 7. Jahrhundert

Den Wahabismus ins 21. Jahrhundert transportieren zu wollen, zerreißt die saudische Gesellschaft geradezu. Einerseits möchte man per Staatsdoktrin den Idealen eines vermeintlichen Ur-Islam nacheifern, andererseits will Saudi-Arabien an den Segnungen der modernen Gesellschaft teilhaben. "Der Modernisierungsprozess hat in Saudi-Arabien sehr spät begonnen. Es gibt dieses Land unter der Herrschaft der Familie Saud etwa seit 260 Jahren, aber erst seit 1945 exportiert das Königreich Öl in kommerziell nutzbaren Mengen. Es hat erst seitdem eine beispiellose physische Modernisierung eingesetzt", weiß Steinberg. Man müsse sich eben vor Augen halten, dass noch vor 60 bis 70 Jahren viele Saudis in Lehmdörfern in den großen Wadis der zentralarabischen Wüsten lebten. Saudi-Arabien ist somit ein Land der Gegensätze. Hier die rückwärtsgewandte Religion, dort das Bestreben, nicht nur mit modernsten Waffen ausgerüstet zu sein, sondern überhaupt an den technischen Segnungen des Westens teilhaben zu können. "Es hat in der Vergangenheit bis in die Gegenwart hinein immer wieder traditionelle Wahabiten gegeben, die argumentierten, dass bestimmte Neuerungen nicht zulässig sind, weil sie nicht im Koran erwähnt werden. So gab es Widerstände gegen die Einführung von Telegrafen, gegen das Radio, gegen das Fernsehen."

 

"Aber die meisten regimetreuen Wahabiten haben sich überzeugen lassen, dass ohne diese Neuerungen der saudi-arabische Staat nicht wird überleben können, so dass selbst die traditionellen konservativen Saudis ganz eifrige Benutzer moderner Technik sind", weiß Steinberg. Die saudische Jugend wird heute nicht nur in den religiös-konservativen Universitäten von Riad, Mekka und Medina ausgebildet, sondern auch im westlichen Ausland. Fast jeder junge Saudi kann fließend Englisch und bewegt sich wie selbstverständlich im Internet. Kaum verwunderlich also, dass somit auch liberales Gedankengut in Saudi-Arabien Einfluss erhält. "Die Kräfteverhältnisse im Land sind aber von außen schwer einzuschätzen", sagt Nahostexperte Steinberg. "Es gibt eine starke liberale Strömung im Land, die Forderungen stellt, beispielsweise nach einer konstitutionellen Monarchie, nach einer Trennung von Staat und Religion, nach einer Säkularisierung der Gesellschaft. Der andere Teil der Bevölkerung fordert, dass das Land wie bisher seinen Vorbildern im 18. Jahrhundert in Saudi-Arabien, im 7. Jahrhundert in Mekka und Medina nacheifert."

Kein Wunder also, dass sich Raif Badawi mit seinen Blog-Einträgen auf gefährliches Terrain begeben hat. So schreibt er auf seiner Webseite: "Der Staat sollte nicht mit der Religion verquickt sein. Der Liberalismus ist die Vision eines freien und guten Lebens für alle." Auch setzt sich Badawi für die Gleichberechtigung von Männern und Frauen ein. Der saudische Blogger möchte die Übermacht der religiösen Autoritäten beschnitten wissen. Denn erst dann werde eine moderne Gesellschaft westlicher Prägung möglich: "Säkularismus respektiert jeden und greift niemanden an. Säkularismus ist die Lösung, wenn Länder, unseres eingeschlossen, den Anschluss an die Erste Welt suchen."

 

Natürlich sei Badawi mit seiner Meinung nicht allein, meint der Nahost-Experte. Aber Badawi ist wohl einer der ganz wenigen, die sich mit seinen Gedanken dermaßen in die Öffentlichkeit und damit in Gefahr begeben haben: "Gerade unter Jugendlichen gibt es viele, die so ähnlich denken wie Badawi. Das Problem ist, dass es sehr schwer ist, mit ihnen Kontakt aufzunehmen, weil sie vorsichtig sind. Denn es gibt zwei Tabus in der saudi-arabischen öffentlichen Debatte: Das ist einmal die Rolle der Religion und die Rolle der wahabitischen Religionsgelehrten, die nicht zu heftig kritisiert werden sollten. Und das zweite Tabu ist Kritik an den Aktivitäten der Herrscherfamilie, insbesondere des Königs, seiner Brüder und seiner Neffen", sagt Guido Steinberg. Genau darüber aber macht sich Badawi mit beißendem Spott lustig, zum Beispiel über die religiösen Autoritäten in seinem Land: "Ich empfehle der NASA, ihre Teleskope einzumotten und den Sharia-Astronomen zu folgen, deren scharfsinnige Vision alle Teleskope überflüssig macht. Gott segne sie!" 

Ein indirektes Opfer von IS

Diese Art von beißendem Spott aber ist in der saudi-arabischen Gesellschaft mehr als nur verpönt. "Die Wahabiten sind weitgehend humorlos. Selbst lautes Lachen wurde traditionell von den wahabitischen Religionsgelehrten und ihren Lakaien in den Städten Zentral-Saudi-Arabiens verboten. Und dass hier ein junger Mann dahingeht, die religiösen Eliten des Landes und wie sie meinen auch die Religion des Landes lächerlich zu machen, ist natürlich noch einmal ein ganz besonderer Affront", sagt Guido Steinberg. Dass Raif Badawi nun zu 1000 Stockhieben und damit faktisch zum Tode verurteilt wurde, hat für den Islamexperten allerdings nur indirekt mit seiner ironisch-spitzzüngigen Kritik zu tun. Vielmehr soll Härte gezeigt werden, zur Abschreckung für all jene, die die saudische Gesellschaft nicht mehr für die beste aller muslimisch nur möglichen halten.

 

Meines Erachtens wird der Herr Badawi zum Opfer einer konservativen Wende in der saudi-arabischen Politik", vermutet Steinberg. "Es gab in der Vergangenheit immer mal wieder jüngere oder auch ältere Liberale, die die Religionsgelehrten sehr heftig kritisiert haben. Das war allerdings zu anderen Zeiten, als es einen gewissen Spielraum gab." Doch die Lage im Nahen Osten habe sich zugespitzt. Für Tausende junge Saudis ist der Wahabismus ihrer Heimat nicht mehr fundamental genug. Sie haben sich dem Dschihad in den Nachbarländern angeschlossen. An Badawi werde nun ein Exempel statuiert, das sich im Grunde gegen Al Kaida und gegen den Islamischen Staat richtet.

 

"Im Moment sehen wir, dass Saudi-Arabien unter großem Druck steht. Und zwar fürchtet das Königreich vor allem den Einfluss dieser beiden großen dschihadistischen Organisationen, IS im Irak und Syrien und Al Kaida im Jemen. Und deswegen versuchen die Herrscher nachzuweisen, dass es nur einen islamischen Staat gibt, nämlich Saudi-Arabien", analysiert Nahost-Experte Steinberg. "Und die liberale Bewegung im Land wird meines Erachtens zum Opfer dieses Trends. Insofern ist Herr Badawi ein indirektes Opfer des großen Erfolges von IS."

 

Zitate aus dem Blog von Raif Badawi:

"Sobald ein Denker beginnt, seine Ideen auszusprechen, wird er in hunderten Fatwas angeklagt, ein Ungläubiger zu sein, weil er den Mut hat, Religionsfragen zu diskutieren. Ich bin wirklich besorgt, dass arabische Denker deshalb emigrieren – auf der Suche nach frischer Luft und um dem Schwert der religiösen Autoritäten zu entkommen."

"Für mich bedeutet Liberalismus einfach leben und leben lassen. Das ist ein prächtiger Slogan. Die Natur des Liberalismus – vor allem der saudischen Version – muss jedoch noch geklärt werden. Es ist sogar wichtiger, die Merkmale und Parameter des Liberalismus zu entwerfen, wobei die andere Fraktion, die kontrolliert und ihre Wahrheit als die einzig richtige proklamiert, so feindlich ist, dass sie ihn ohne Diskussion oder ohne zu verstehen, was die Wörter überhaupt bedeuten, unterdrückt. Sie war erfolgreich darin, in den Köpfen des Volkes Feindlichkeit gegenüber dem Liberalismus einzupflanzen und die Leute dazu zu bringen, sich dagegen zu stellen. Aber ihre Macht über den Verstand der Menschen und über die Gesellschaft soll verschwinden wie der Staub, der vom Wind weggetragen wird."

"Der Staat sollte nicht mit der Religion verquickt sein. Das heißt nicht, dass er anti-religiös ist. Ganz im Gegenteil: Der Staat schützt die Religionsfreiheit. Keine Religion darf diskriminiert oder bevorzugt werden. Der Liberalismus ist die Vision eines freien und guten Lebens für alle. Und diese Vision steht im Einklang mit einer Religion, die immer und jederzeit zur Güte, Liebe und zum Frieden aufruft."

"Natürlich muss das liberale System auf andere Konzepte ausgeweitet werden wie Menschenrechte, Gleichberechtigung und Chancengleichheit. Hätten liberale Frauen und Männer nicht über Jahrzehnte dafür gekämpft, gäbe es solche Konzepte und Ideen nicht."

"Säkularismus respektiert jeden und greift niemanden an. Säkularismus ist die Lösung, wenn Länder, unseres eingeschlossen, den Anschluss an die Erste Welt suchen. Religionen sind dazu da, um eine spirituelle Beziehung zwischen dem Einzelnen und seinem Schöpfer darzustellen. Wenn es aber darum geht, Gesetze zu beschließen, egal ob eine Straßenverkehrsordnung oder ein Beschäftigungsgesetz – das lässt sich nicht von einer Religion ableiten."

"Dieser ehrwürdige Prediger hat meine Aufmerksamkeit auf eine Wahrheit gelenkt, die mir und meinen Lesern bislang verborgen blieb, nämlich die Existenz eines so genannten Sharia-Astronomen. Was für eine wundervolle Bezeichnung! Ich empfehle der NASA, ihre Teleskope einzumotten und  den Sharia-Astronomen zu folgen, deren scharfsinnige Vision alle Teleskope überflüssig macht. Sie sollten zu Schülern unserer Prediger werden, um alles über moderne Medizin, Chemie, Mikrobiologie, Nuklearphysik und eben Anthropologie zu erfahren. Sie sollten von unserer Sharia-Sternenkunde lernen. Gott segne sie! Sie sind die endgültige Autorität. Das muss  jeder Mensch akzeptieren. Ihr muss sich jeder Mensch unterwerfen und gehorchen - ohne Zögern und Diskussion."

"Was mich am meisten trifft als Bewohner einer Region, die solche Terroristen exportiert, ist die Dreistigkeit von Muslimen, die die Unverfrorenheit besitzen, keinerlei Bedauern über Tausende von Opfern und deren Familien in New York zu äußern. Was meine Scham noch vergrößert, ist diese chauvinistische islamische Arroganz, die dieses unschuldige Blut einfordert, geschürt durch Barbaren, brutale Seelen unter dem Ruf 'Allahu Akbar'! Würden wir akzeptieren, dass uns Juden oder Christen zu Hause angreifen und diese dann dort eine Synagoge oder Kirche bauen? Ich zweifele daran! Wir verhindern aber den Bau einer Kirche in Saudi-Arabien, obwohl wir von keinem angegriffen wurden. Wir sollten also nicht die Tatsache verschweigen, dass die Muslime in Saudi-Arabien den Glauben anderer nicht nur nicht respektieren, sondern den Ungläubigen  auch mit Misstrauen begegnen. Wie sollen wir also mit 6 Milliarden Menschen normal zusammenleben, wenn viereinhalb Milliarden von ihnen keine Muslime sind?"