In Zeiten rückläufiger Mitgliederzahlen: ist es schwierig Gemeindeleben zu gestalten?
Yvonne Blanco Wißmann: Ja. Früher waren die Leute ganz selbstverständlich da. Es war ganz klar, wen man zum Kuchenbacken und für einen Fahrdienst anspricht. Ehrenamtliche sind heute selbstbewusster und bringen stärker ihre eigenen Interessen ein. Das macht die Gemeindearbeit einerseits schwierig, aber andererseits interessant, bereichernd, vielschichtig. Es ist nicht mehr alles so Pfarrerzentriert. Für mich entspricht dieses Selbstbewusstsein eher dem Wesen der Kirche: Jeder kann seinen Glauben mündig leben. Es entsteht dadurch ein gleichberechtigteres Verhältnis. Man ist nicht nur Empfangender, sondern gestaltet mit.
Sie haben eine Fortbildung "Ehrenamtsmanagement" gemacht. Was haben Sie dadurch für Ihre Arbeit vor Ort gelernt?
Blanco Wißmann: Ich habe gemerkt: Man kann manche Konflikte vermeiden, wenn die Strukturen klar sind; wenn jeder weiß, wer für was zuständig ist. Die Fortbildung hat mir dabei geholfen, Menschen für den Kirchenvorstand zu gewinnen. Ich habe dafür nur persönliche Gespräche geführt, habe mit den Menschen darüber gesprochen, was sie tun können und was sie selbst davon haben. Ich versetze mich jetzt häufiger und besser in die Sicht der Ehrenamtlichen hinein. Wir haben das Ehrenamtsmanagement dem Diakonieausschuss angegliedert und dort arbeiten wir an einem Ehrenamts-Konzept.
"Kultur der gegenseitigen Wertschätzung"
Was beinhaltet das Ehrenamts-Konzept?
Blanco Wißmann: Wir haben eine Anerkennungskultur festgelegt. Wir senden Geburtstagswünsche und Weihnachtsgrüße. Solche Grüße gab es zwar auch vorher, nun haben wir es aber zusätzlich notiert und damit festgelegt. Wir haben außerdem festgelegt, welche Geschenke wir verteilen: Was geben wir beispielsweise den Teamern, die auf eine Freizeit mitfahren? Alle wissen nun, wie es geregelt ist und haben keine falschen Erwartungen. Das Ehrenamts-Konzept beinhaltet außerdem, dass wir einen Ehrenamtsabend veranstalten.
Das heißt, Sie setzen auf Rituale?
Blanco Wißmann: Ja, wir haben jetzt beispielsweise auch spezielle Gottesdienste, um neue Ehrenamtliche zu begrüßen und die alten Ehrenamtlichen zu verabschieden. Wir segnen sie für ihren Dienst und stellen sie der Gemeinde vor und sagen, für welchen Bereich sie dazugekommen sind. Eine Gemeinde ist ein komplexes Gefüge und man bekommt nicht immer alles mit. Diese Vorstellung vor der Gemeinde ist auch als Zeichen der Wertschätzung gedacht.
Reichen Geschenke und ein Vorstellungsgottesdienst, um Ehrenamtliche zu binden?
Blanco Wißmann: Ich arbeite momentan daran, eine Kultur der gegenseitigen Wertschätzung einzuführen, die sich die Engagierten untereinander entgegenbringen sollten. Das haben nicht nur die Pfarrerinnen und Pfarrer in der Hand. Manche bringen mehr, andere weniger Zeit mit ein. Wer wieviel mitarbeitet, sollte untereinander nicht abgewertet werden. Außerdem bilden wir unsere Ehrenamtlichen mehr fort als früher. Wir schicken sie zu den Angeboten der Landesehrenamtsakademie, um sie dort zu schulen. So können wir qualifizierte Arbeit anbieten, beispielsweise im Bereich Kindergottesdienst. Es soll ja nicht irgendetwas gemacht werden. Diese Fortbildungen übernimmt auch die Gemeinde.
"Es ist wichtig, dass man nicht nur nimmt"
Wie hat sich das Ehrenamt in den vergangenen Jahren noch verändert?
Blanco Wißmann: Wer ist Ehrenamtlicher? Diese Frage muss man, meiner Meinung nach, neu beantworten. Zum Ehrenamtsabend habe ich beispielsweise versucht alle einzuladen, die sich in irgendeiner Weise engagiert haben. Und sei es "nur" beim Stühle schleppen, als wir mit der Gemeinde einen Umzug hatten. Freiwillige sind auch die, die spontan sagen: ‚Ich helfe hier mal mit‘. Deswegen spricht man heute mehr von Freiwilligen, während Ehrenamt auf lange Zeit angelegt ist. Im Gottesdienst werden jedoch nur die in ihr Amt eingeführt und dafür gesegnet, die längerfristige Aufgaben übernehmen. Doch die Wertschätzung muss trotzdem gleich sein.
Wenn es schwierig ist, Leute zu finden, wie findet man sie trotzdem?
Blanco Wißmann: Es gibt zwei Möglichkeiten. Entweder man spricht Leute an, die man häufiger sieht, und überlegt mit ihnen gemeinsam: Wo sind ihre Interessen, hätten sie nicht Lust, sich zu engagieren und wie könnte das aussehen? Oder aber: Wir wollten ein Frauenfrühstück starten und haben dann alle Frauen ab 55 Jahren, circa 400, angeschrieben und genau beschrieben, was wir wollen. So wussten die Frauen genau wie der Arbeitsaufwand sein wird. Daraufhin haben sich einige gemeldet, die mitarbeiten wollten.
Wie verhindern Sie, dass Ehrenamtliche überfordert werden?
Blanco Wißmann: Ich versuche die Ehrenamtlichen zu begleiten und nicht einfach zu sagen: 'Da habt ihr Eure Aufgabe'. Es ist wichtig, dass man nicht nur nimmt und froh ist, dass die Arbeit gemacht wird. Da fühle ich mich in der Verantwortung. Ich beobachte, ob etwas funktioniert. Es darf auch nicht in den Bereich des Ausnutzens gehen. Im Moment ist jemand bei uns im Bereich des Baus engagiert und hat viel Arbeit damit. Ich bleibe mit ihm im Gespräch und versuche auch darauf zu achten, dass seine Familie nicht zu kurz kommt.
Die Überforderung könnte auch ein falsches Amt sein.
Blanco Wißmann: Wenn man merkt, dieser Ehrenamtliche ist am falschen Platz und merkt es vielleicht selbst nicht, dass er der Rolle nicht gewachsen ist oder sich nicht adäquat verhält. Da stellt sich dann die Frage: Er oder sie macht das doch ehrenamtlich, muss man nicht dankbar dafür sein? Gleichzeitig habe ich eine Verantwortung der Arbeit oder den Menschen gegenüber, denen er oder sie da begegnet. Deswegen schaue ich dann, ob sie oder er vielleicht an anderer Stelle besser aufgehoben ist.
Wie wichtig sind die Ehrenamtlichen und Freiwilligen für eine Gemeinde?
Blanco Wißmann: Ehrenamtliche sind vor allem Kirche. Als Pfarrerin, und somit Hauptamtliche, bringe ich mein Fachgebiet, die Theologie mit ein. Trotzdem ist jeder mündig im Glauben. Das Priestertum aller Gläubigen spielt hier eine Rolle. Gemeindeleben kann nur existieren, indem sich Menschen auch in irgendeiner Art und Weise engagieren. Das ist zum einen Selbstzweck, um den eigenen Glauben zu leben. Davon ausgehend finde ich es wichtig, wenn wir als Gemeinde im diakonischen Bereich auch in die Welt hinauswirken.