Seit zwei Tagen bin ich nun an Bord der "Sea-Watch 4" und mein Leben hat sich ziemlich geändert. Seit einem negativen Covid-19-Testergebnis bin ich Teil der 30 frau- und mannstarken Crew und lebe in einer Kabine von sechs Quadratmetern mit meinen Zimmernachbarn. Weil die Crewmitglieder aus zehn verschiedenen Nationen kommen, ist die offizielle Sprache an Bord Englisch. Auch die deutschsprechenden Crew-Mitglieder versuchen untereinander jederzeit im Englischen zu bleiben - das trainiert.
Constanze Broelemann, Jahrgang 1978, leitet die Graubündner Redaktion der evangelisch-reformierten Zeitung in Chur. Die Zeitung "reformiert" ist die auflagenstärkste evangelische Zeitung in der Schweiz. Außerdem arbeitet sie in Teilzeit im Pfarramt in der Schweiz und macht schwerpunktmäßig Konfirmandenarbeit.
Trainings und Regeln auch sonst überall - zumindest in dieser "heißen Phase". So mein erster Eindruck: Ein Schiff ist eben kein Haus und schon gar kein Hotel, wird mir freundlich, aber bestimmt versichert. Die Stahltüren sollen eingehängt oder geschlossen sein - insbesondere wenn wir auf See sind. Klar, bei starkem Seegang sollen sie nicht herumschlagen. An Bord tragen wir immer Schuhe mit Stahlkappen und im Crew-Bereich des Schiffes, dem Rückzugsraum für die Mitfahrenden, soll es möglichst ruhig sein, denn die Nachtwachen müssen tagsüber Schlaf nachholen.
An diesem Morgen (und auch sonst immer) haben wir beim Morning-Briefing in der Messe, dem Ess- und Aufenthaltsraum der "Sea-Watch 4", zu erscheinen, und anschließend heißt es "Morning-Cleaning". Also reinigen und desinfizieren alle zusammen unseren Wohn- und Lebensbereich. Eine besonders starke Persönlichkeit in diesem Zusammenhang und an Bord scheint "Hilde" zu sein. Was zunächst nach einer netten älteren Dame oder der "guten Seele" des Schiffes klingt, ist etwas ganz anderes. Aber ebenso erfahren und wohl auch sensitiv wie eine ältere menschliche Dame ist sie, diese Hilde. Sie ist nicht weniger als die schiffsinterne Kanalisationsanlage. Gefüllt mit Bakterien und dazu da, unsere naja - Ausscheidungen zu kanalisieren. Fällt sie aus, ist es im wahrsten Sinne des Wortes Sch... Daher Regel Nummer so und so viel: nichts Unnötiges in die Toiletten werfen, damit dieses System nicht zusammenbricht.
Wir stehen kurz davor, in See zu stechen und die (An)Spannung steigt. Der ganz Tag ist vollgepackt mit Informationen. Zunächst erklärt uns Philipp, der Head of Mission (HoM) über die Route, auf, die die "Sea-Watch 4" wählen wird. "Geplant ist, dass wir innerhalb von fünf Tagen westlich von Tripolis in die Such- und Rettungszone (SAR) 1 fahren werden". Also etwa 24 Meilen vor der libyschen Küste. Dort wird das Team der "Sea-Watch 4" nach "people in distress", also Schiffbrüchigen, Ausschau halten und zwar mittels Flugzeugen, dem Alarmphone und den eigenen Augen. In einem Schichtmodus sind dann so genannte "people of the watch" eingeteilt, die die SAR spotten, also beobachten. Im Rettungsfall kommen zuerst "Bravo" und "Tango" zum Einsatz. Das sind die zwei Schnellboote der "Sea-Watch 4", die unmittelbar rausfahren, Rettungswesten an die Schiffbrüchigen verteilen und mit dem Team der "medicins sans frontieres" eine erste medizinische Triage vornehmen. Mit 115 PS brettern diese, bei einem Neukauf 50.000 Euro teuren Boote über das Meer.
Gestern hatten wir die Möglichkeit, ein wenig, ein Gespür für die Boote zu bekommen. Martin, einer derjenigen, die die Boote auch im Einsatz fahren werden, offerierte uns die Möglichkeit, im Hafengebiet von Burriana und ein Weilchen auf dem offenen Meer zu cruisen. Neben korrekten An- und Ableg-Manövern simulierten wir auch den "Mann über Bord"-Fall. Da wir zu diesem Zeitpunkt noch nicht im offiziellen Trainingsmodus waren, konnten wir beim Schnellbootfahren für einen Moment mental etwas locker lassen.
Denn schon heute wurde das Team der "Sea-Watch 4" ganztätig zu Covid-19-Prävention und dem Umgang mit den Geretteten an Bord gebrieft. Aufgrund der Pandemie will die Crew versuchen, dass die Kapazitäten des Schiffes nicht ganz ausgeschöpft werden. "Wir wollen das Schiff nicht komplett vollstopfen, um die Übertragungen mit dem Virus keinen Falls zu fördern", sagt Chris, Medienkoordinator auf der aktuellen Mission. So sollen Menschen aus verschiedenen Booten auf unterschiedlichen Decks separiert werden. Ganz grundsätzlich gilt der Leitsatz aus dem Seerecht: " Der Kapitän darf das Schiff und seine Crew nicht in erhebliche Gefahr bringen". Wir werden sehen, ob dieser Punkt einmal erreicht sein könnte.
Jedenfalls ist die Vorgabe, dass alle Geretteten bereits nach dem Betreten der Gangway auf Symptome von Covid-19 überprüft werden, es wird vorsorglich Fieber gemessen und Schutzmasken werden verteilt. Die Crew wird sich auf dem Achterdeck, das die Seebrüchigen beherbergt, ausschließlich mit Schutzkleidung bewegen, die dann umgehend separat gewaschen wird. Im Fall einer Infektion auf See können Schiff und medizinische Crew Isolationsmöglichkeiten vorhalten. "Wir haben alles an Bord, um die Erkrankung zu behandeln", versichert die Ärztin an Bord.
Ansonsten gelten nach einer Evakuierung von Geretteten noch strengere Regeln als zuvor. Falls man nach Rücksprache mit Ilina von den "Ärzte ohne Grenzen" oder Nora von der "Sea-Watch"-Crew und zuständig für die "guest care" mit jemandem der Geretteten sprechen darf - dann nur unter strengen Auflagen. Die sind: den Menschen auf keinen Fall Versprechen geben, die man nicht halten kann, und: keine Diskussionen über die europäische Asylpolitik mit den Geretteten führen.
Ein sehr langer Tag geht nun langsam zu Ende. Ich gehe nochmals im Meer schwimmen, solange das noch möglich ist. Heute konnte ich - obwohl wir noch im spanischen Hafen liegen - erst jetzt am Abend von Bord. Der Tag war ab 7 Uhr vollgepackt und die Informationsflut ist gewaltig. Morgen wird es nicht viel anders sein. Schon jetzt hat sich meine Perspektive verändert. Ich bin nicht länger eine Art "eingeschränkter Feriengast" in Spanien, sondern Teil einer Crew mit einer bestimmen Aufgabe - die der Journalistin an Bord. Im Notfalleinsatz werden auch meine Hände zum Helfen gebraucht.