Schon seit über einem Jahr verbreiten "besorgte Bürger" ihre giftigen Parolen. Mit Hass und Hetze wettern sie gegen alle, die ihrem Weltbild widersprechen: gegen Flüchtlinge, Ausländer, Muslime, Juden und Jüdinnen, gegen so genannte Gutmenschen, die "Lügenpresse", gegen Lesben, Schwule, Bi- und Transsexuelle (LSBT) und viele mehr.
Hass und Hetze gegen Juden und Jüdinnen, gegen Andersdenkende, Andersglaubende und Anderslebende hat den Mob auch vor 77 Jahren angetrieben. Als "besorgte Deutsche" haben sie in der Nacht vom 9. November 1938 Synagogen angezündet, Geschäfte geplündert und Hunderte jüdischer Bürgerinnen und Bürger ermordet. Gerechtfertigt wurde die beispiellose Gewalt mit dem "deutschen Volkszorn" gegen die "Verjudung des deutschen Volkes" und gegen den jüdischen Attentäter Herschel Grynszpan. Der hatte aus Protest gegen die Internierung seiner jüdischen Familie den deutschen Botschaftsmitarbeiter Ernst vom Rath in Paris nieder geschossen. Die Reichspogromnacht war der Anfang der systematischen Ermordung der jüdischen Bevölkerung in Deutschland und in ganz Europa.
Heutzutage werden Hetze und Hassreden mit Angst und Protest gegen die "Islamisierung des Abendlandes" begründet. Flüchtlingsunterkünfte haben schon gebrannt, Moscheen wurden angezündet, gewaltsame Übergriffe gegen Flüchtlinge gab es auch schon. Undifferenzierten Verleumdungen und Gewaltausbrüche sollte es gerade in Deutschland nie wieder geben.
Ich bin fassungslos, dass seit über einem Jahr jeden Montag Parolen zu hören sind, die nicht viel anders auch im Jahr 1938 skandiert wurden. Unter ihnen ist ein explosives Gemisch von rechtspopulistischen und rechtsnationalen Politikern, unzufriedenen Bürgerinnen und Bürgern, rechten Schlägergruppen und Neonazis. Unter ihnen sind aber auch Christinnen und Christen, deren Kritik gegen den Islam für rechtspopulistische Parolen genutzt werden. Unter ihnen findet sich auch eine Gruppe "Homosexuelle in der AfD", wie die Journalistin Stephanie Kuhnen in ihrem Kommentar gegen den neuen Rechtspopulismus geschrieben hat.
Sie alle haben offensichtlich nichts aus der Geschichte gelernt. Die Verbindung von Rassismus, Ausländer- und Homofeindlichkeit ist der giftige Cocktail, der in Deutschland gemixt wird und der bis weit in die Mitte der Gesellschaft Abnehmer findet.
Hat die systematische Ermordung von sechs Millionen Juden und Jüdinnen, von Hunderttausenden politisch Verfolgten, Sinti und Roma, Lesben und Schwulen und vielen anderen nicht gezeigt, wohin solche Demagogisierung und Entmenschlichung von ganzen Menschengruppen führen?
Der Rechtsruck in unserer Gesellschaft hat in letzter Zeit zu unsäglichen Koalitionen geführt. Rechtskonservative entdecken plötzlich ihre Sorge für Frauen- und Homorechte. Einige Feministinnen unterstützen patriarchal organaisierte rechtspopulistische Gruppierungen. Gemeinsam wettern sie gegen die "Islamisierung des Abendlandes". Und schon seit geraumer Zeit ist es geradezu schick, gegen "Gutmenschen" und "naive" Kirchenleute zu polemisieren. Unerträglich ist es, wie die so genannte "Lügenpresse" verleumdet wird, genauso wie engagierte Ehrenamtliche in der Flüchtlingshilfe und viele andere Aktive in der Zivilgesellschaft. Gleichzeitig wird die Schwelle zur Gewalt stetig abgesenkt: Angriffe gegen Flüchtlingsunterkünfte und gegen Flüchtlinge, das Attentat gegen Kölns Bürgermeisterkandidatin Henriette Reker, die Hassreden von Pegida-Frontmann Lutz Bachmann oder die Hetze gegen Politiker und Politikerinnen, Moslems und Schwule von Akif Pirincci. Die Liste könnte beliebig verlängert werden.
Am 9. November 2015 hat der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) Heinrich Bedford-Strohm auf der EKD-Synode in Bremen die Pegida-Demonstrationen scharf kritisiert und sich für eine Kultur der Mitmenschlichkeit und Solidarität mit Flüchtlingen ausgesprochen. Eine klare Positionierung angesichts der Eskalation von Hass und Hetze, die alle Beteiligten der EKD-Synode unterstützt haben. Das ist ein wichtiges Zeichen. Wegschauen ist keine Option. Denn wer bei Pegida mitläuft, stärkt rechtspopulistische und rechtsnationale Kräfte und ermutigt rassistische Übergriffe und Gewalt.
Aus der Vergangenheit zu lernen, heißt für mich angesichts des 9. Novembers 1938: Klar Stellung beziehen gegen Hetze und gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit, sich einmischen und Mitmenschlichkeit zeigen gegenüber allen Menschen, unabhängig von ihrer Herkunft, Hautfarbe, Religionszugehörigkeit und Lebensform.