Liebe evangelisch.de-Nutzerinnen und -Nutzer,
ich war am vergangenen Dienstag als Teilnehmer zu einer Diskussionsrunde zu digitaler Bildung eingeladen, ausgehend von dem Antrag "Durch Stärkung der Digitalen Bildung Medienkompetenz fördern und digitale Spaltung überwinden" von SPD und CDU/CSU an den Bundestag, ökumenisch eingeladen von der Clearingstelle Medienkompetenz der DBK.
So ein Leitlinien einfordernder Antrag ist ein bisschen wie eine alte Teflonpfanne, an der fast alles abperlt, aber etwas noch hängen bleibt. Denn während vieles aus dem Antrag sehr konzeptionell und unkonkret bleibt, stehen doch einige Forderungen drin, darunter die Förderung von "open educational resources" (OER), also frei zugängliche Lehr- und Lernmaterialien, der (bereits beschlossene) Ausbau des Breitbandnetzes auch für Schulen etc., und mehr Informatik-Unterricht.
Ich habe mir vor der Diskussion in Berlin einige Gedanken zum Thema Digitalisierung und digitale Bildung gemacht, die ich hier noch mal etwas ausführlicher aufschreibe. (Auf Ihre Reaktionen zum Thema Kommentar-Regeln von vergangener Woche gehe ich im Blogeintrag vor Weihnachten noch ein.) Es wird etwas länger als die sonstigen Blogeinträge, aber vielleicht finden Sie als digital interessierte Menschen den ein oder anderen wertvollen Gedanken darin.
Los geht's!
In der "Digitalen Agenda" der Bundesregierung steht ein wichtiger Satz: "Ein Gegensatz zwischen realer und virtueller Welt existiert nicht." Und trotzdem ist im Antrag der Regierungsfraktionen im Titel noch immer von der "digitalen Spaltung" die Rede. Wenn wir aber die eine Spaltung überwunden haben, nämlich die zwischen Kohlenstoffwelt und digitaler Welt, welche Spaltung bleibt also übrig? Ich sehe in dem Antrag drei Gräben, die im Alltag noch überbrückt werden müssen:
Die Spaltung zwischen Generationen, was die Nutzung von digitaler Technik angeht. Die Spaltung zwischen Bildungsverlierern und Bildungsgewinnern. Und die Spaltung zwischen Technik und Kultur.
Der erste Graben, der digitale Graben zwischen den Generationen, schließt sich langsam von selbst. Allerdings – und darauf geht der Antrag ja ein – gibt es in den Schulen hier noch ein großes Defizit zwischen Schülern und Lehrern. Ich saß neulich in einem Seminar mit zwei Menschen aus Schulbuchverlagen, die aus ihrer Arbeit erzählten. Die Schulbuchverlage tun sich schwer mit der Digitalisierung ihrer Materialien, weil sie erstens noch nicht wissen, wie sie damit Geld verdienen wollen. Aber zweitens auch, weil die Lehrer vielerorts noch gar nicht wissen, wie sie digitalisierte Schulmaterialien sinnvoll einsetzen können. Dass Schülerinnen und Schüler (und Lehrer übrigens auch!) im Unterricht ihre Smartphones ausschalten müssen, sie aber nach der Schule ununterbrochen benutzen, ist ein Zeichen dafür, dass die Schule dort den Anschluss ans Leben verliert. Der Umgang mit Information in der digitalen Welt lässt sich nicht von Papier lernen. Deswegen ist die Forderung, eine stärkere technische Infrastruktur und das "bring your own device"-Modell aufzubauen, sehr begrüßenswert.
Mit Technik allein lässt sich der zweite Graben, zwischen Bildungsverlierern und Bildungsgewinnern, aber nicht überbrücken. Kinder und Jugendliche sind heute alle online, das wissen wir aus der aktuellen JIM-Studie und aus unserer täglichen Beobachtung. Aber auch unter Erwachsenen ist es zunehmend seltsam, wenn jemand das Internet nicht nutzt. Wer heute gar nicht online ist, ist ebenso ein Aussteiger wie Menschen, die absichtlich ohne Strom oder fließendes Wasser leben. Es ist absehbar, dass in den kommenden zehn Jahren ausnahmslos jeder Mensch ein Smartphone, eine Digitalbrille oder ein entsprechendes Implantat mit sich trägt. Die Frage ist, wie und wozu er es benutzt. Noch mehr als heute wird die Fähigkeit der Informationsverarbeitung bestimmen, wie jemand sich in der digitalisierten Welt zurecht findet, auch in der Berufswelt. Darin liegt ein wesentlicher Bildungsauftrag: Welche Informationen sind relevant, welche Informationen sind richtig, welche sind falsch? Welches neue digitale Werkzeug ersetzt ein altes digitales Werkzeug? Aber auch die Reflexion: Was mache ich mit dem Gerät, was macht das Gerät von alleine, was macht das Gerät mit mir? Diese Fragen muss jeder Nutzer beantworten können. Das müssen wir in der Schule und darüber hinaus, sowohl vorher als auch nachher, vermitteln.
Schon heute sind Leute, die von einer neuen Windows-Version oder einer veränderten grafischen Oberfläche in Word verschreckt werden, eindeutig im Hintertreffen. Und das ist nur der banale Alltag eines Normalanwenders. Vergleichen wir das mit Handwerk: Hammer und Drehbank haben sich in Jahrhunderten nicht verändert. Aber wenn wir heute über CNC-Fräsen und 3D-Drucker reden, kann man diese Maschinen nicht ohne ihre Software-Umgebung verstehen. Einmal oder zweimal zu lernen, wie eine Maschine funktioniert, reicht nicht mehr für ein ganzes Arbeitsleben.
Dafür braucht es nicht nur die Förderung von "Wissenschaftskompetenz" in den MINT-Fächern – Mathe, Informatik, Naturwissenschaft, Technik. Hier greift der Antrag aus meiner Sicht zu kurz. Wichtiger als die "Wissenschaftskompetenz" ist die "Wissenskompetenz", die Menschen befähigt, sich alle anderen Kompetenzen anzueignen.
Dort tut sich aber der dritte Graben auf, einer zwischen Technik und Kultur – übrigens nicht nur in der Schule, sondern auch im Journalismus. Die digitalisierte Welt ist zwar sehr technik-geprägt, sie ist aber zugleich hoch kulturell! Es muss allen klar sein, dass jemand, der Algorithmen nicht versteht, trotzdem wesentlich schöpferisch an der digitalisierten Welt teilhaben kann. Ja, wir brauchen Ingenieure und Programmierer, die Algorithmen und Programmiersprachen lernen und verstehen. Wir dürfen die kreativen Köpfe aber nicht in der digitalen Bildung vergessen. Einer digitalen Welt, die ausschließlich von technokratischen Programmier-Nerds gesteuert würde, fehlte das Kulturelle, das Musische, das Fröhliche. Wer sich nur mal einen Tag auf YouTube herumtreibt, merkt schnell, dass die digitale Gegenwart heute gottseidank nicht so ist. Deswegen würde ich mir wünschen – und das wird mir im Antrag "Stärkung der Digitalen Bildung" ein bisschen zu sehr versteckt – dass Schülerinnen und Schüler nicht nur HTML, SQL, Java und Python im Informatik-Unterricht lernen (oder was auch immer in Zukunft aktuell ist), sondern auch Photoshop und Instagram und ihre zukünftigen Nachfolger im Kunstunterricht. Und das Schreiben von YouTube-Kommentaren in Deutsch und Philosophie.
Weil sich das alles aber schneller verändert als Bildungspläne reagieren können, kann Politik hier von der Software-Entwicklung lernen. Agiler denken - das heißt in diesem konkreten Fall, Lehrer*innen und Schulen zu ermutigen, einfach mal Sachen auszuprobieren - so wie es an vielen Schulen bereits passiert, aber bei weitem nicht flächendeckend. Um in der digitalisierten Bildungswelt Ideen für die Lehre umzusetzen, muss nicht jeder sofort alles machen, und Schulen brauchen z.B. nicht flächendeckend "intelligente" Whiteboards, wenn sie die noch nicht sinnvoll einsetzen können. Aber wenn Lehrende eine Idee haben, wie man interaktive digitale Formen im Unterricht einsetzen kann, sollten sie mindestens das W-Lan und die Ermutigung dazu haben. Diese Einzellösungen müssen sich vernetzen, aber nicht jede*r muss jede Lösung kennen oder ausprobieren. Es gibt keine "one size fits all"-Lösung, aber ganz viel Inspiration. Das ist für alle Beteiligten anstrengender. Aber wir können die Folgen einer komplett digitalisierten Welt bisher nur in Science-Fiction-Romanen nachlesen, und bis dahin gibt es je nach Ort, Lust und Fähigkeit eine große Ungleichzeitigkeit.
Dabei hilft es, immer zwei Fragen im Hinterkopf zu haben: Was macht der Mensch mit der Technik? Und was macht die Technik mit dem Menschen? Ich glaube, dass da keineswegs eine technik-feindliche ablehnende Haltung draus entstehen muss. Aber die digitale, sich schnell verändernde Technik sollte immer dem Menschen zugute kommen. Schränkt sie unsere Selbstbestimmung auf undurchdringliche Weise ein? Eröffnet sie neue Zugänge zu Wissen? Macht sie uns das Leben leichter? Macht sie uns Spaß? Die Bewertungskriterien müssen vom Menschen ausgehen.
Und übrigens: Lassen Sie uns endlich nicht mehr von "Zukunft" zu sprechen, wenn wir über eine digitalisierte Welt reden. Denn sie ist schon längst Gegenwart. Lassen Sie uns nicht wie die Mönche sein, die zu Zeiten des Buchdrucks jedes gedruckte Exemplar einzeln auf Schreibfehler durchgeschaut haben, weil sie sich nicht vorstellen konnten, dass es perfekte Kopien gibt.
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Abschließend noch der Hinweis im Advent, der auch viel mit respektvollem Miteinander zu tun hat: Wenn Sie Fragen zum Flüchtlingsthema haben, antwortet Diakonie-Präsident Ulrich Lilie gerne darauf. In chrismon hatte er ein Interview gegeben, dass einiges an Reaktionen ausgelöst hat. Das hat Herrn Lilie dazu motiviert, noch mehr mit Menschen ins Gespräch zu kommen. Dazu nutzen wir unsere Seite fragen.evangelisch.de - erklärt wird das Ganze hier.
Ich wünsche euch und Ihnen einen gesegneten vierten Advent!
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Ich werfe immer am Samstag an dieser Stelle einen Blick auf die vergangene Woche und beantworte außerdem Ihre Fragen zu evangelisch.de, so gut ich kann. Ich wünsche euch und Ihnen einen gesegneten Start ins Wochenende!