Hast du eine Regenbogenfahne, einen überdurchschnittlich hohen BMI oder eine Behinderung? Dann viel Spaß auf TikTok, der fünf Milliarden starken Internet-Spaß-Plattform für Kurzclips, Memes und Musikparodien. Denn deine Videos will TikTok aktiv unterdrücken, wie eine Recherche von Netzpolitik.org zeigt. Netzpolitik hat von einer Quelle bei ByteDance, der chinesischen Betreiberfirma von TikTok, die Moderationsregeln zugespielt bekommen. Moderator*innen waren "angewiesen, Menschen mit Behinderungen und andere, die als Mobbing-Risiko gewertet wurden, in der Reichweite drastisch einzuschränken". Als Beispiel werden in den Richtlinien konkret "entstelltes Gesicht", "Autismus" und "Downsyndrom" genannt.
In den Accounts, deren Videoreichweite TikTok grundsätzlich gedeckelt hat, fand Netzpolitik "Menschen, die Videos mit Hashtags wie #lebenmitbehinderung posten oder ‚Autist‘ in ihren Biografien stehen haben", außerdem Nutzer*innen, die einfach nur dick sind, Regenbogenflaggen zeigen "oder sich aktiv als lesbisch, schwul oder nicht-binär verorten".
TikToks Logik dazu ist, gesellschaftlich benachteiligte Menschen vor Online-Mobbing schützen zu wollen. Dass eine Einschränkung ihrer Reichweite die systemische Benachteiligung nur verstärkt, scheint bei der chinesischen Plattform keiner gemerkt zu haben. Mobbing verhindert man nicht, indem man die (potentiellen) Opfer weiter benachteiligt, sondern den Tätern deutlich macht, was sie tun und ihrem Handeln einen Riegel vorschiebt.
Netzpolitik berichtet, dass TikTok-Mitarbeiter*innen mehrfach auf die Probleme mit den Moderationsrichtlinien hingewiesen hätten und sich sensiblere Regelungen wünchten. "Ihre Hinweise seien jedoch von den chinesischen Entscheidungsträger:innen abgetan worden. Die Regeln wurden vor allem aus Peking heruntergereicht", schreibt Netzpolitik.
Eine TikTok-Sprecherin teilte zu der Recherche mit, TikTok wolle seine Regeln ändern: "Obwohl wir damit eine gute Absicht verfolgt haben, wurde uns klar, dass es dabei nicht um den richtigen Ansatz handelt." (Die ganze dreiteilige Netzpolitik-Recherche ist hier: TikToks Umgang mit politischen Inhalten, TikToks Umgamg mit Kritik, TikToks Moderationsregeln.)
Abgesehen von den diskriminierenden Regeln zeigt die Netzpolitik-Recherche auch, dass Inhalte von der Plattform – ob händisch oder per Algorithmus – aktiv bevorzugt werden. TikTok hat fünf Sichtbarkeitsstufen, von denen jeweils abhängt, wie oft Videos anderen Nutzer*innen ausgespielt wird. Wie bei allen algorithmisch gesteuerten Plattformen ist das vollkommen intransparent. Selbst das Suchfeld, das den Anschein erweckt, die ganze Plattform zu durchsuchen, ist in seinen Ergebnissen eingeschränkt.
Das gilt auch für YouTube, die weltgrößte Videoplattform. In der jüngsten Anpassung der Nutzungsbedingungen von November 2019 hatte YouTube noch darauf hingewiesen, dass sie keine Verpflichtung haben, irgendwessen Inhalte akzeptieren zu müssen: Was auf YouTube sichtbar ist, entscheidet allein die Firma.
Die Neutralitätslüge im YouTube-Rewind
Umso eigenartiger wirkt der Jahresrückblick 2019, den YouTube am 5. Dezember veröffentlicht hat.
YouTube macht jedes Jahr so einen Rückblick auf die unzähligen Inhalte, Memes und Menschen, die die Videoplattform mit Leben (und Inhalten) füllen. 2018 ging das ordentlich schief: Das damalige Rewind-Video ist mit derzeit 17 Millionen Dislikes das am wenigsten gemochte Video aller Zeiten auf der Plattform. YouTube hatte sich damals gedacht, eine Geschichte am Lagerfeuer mit Promis (vor allem Will Smith), kleinen und großen YouTubern zu erzählen über die Vielfalt, Kreativität, Trends und Communities, die es auf YouTube so gibt. Kam nicht gut an bei den Nutzer*innen.
Da hat sich YouTube gedacht: 2019 lassen wir das mit der redaktionellen Idee und dem händischen Kuratieren und veröffentlichen einfach eine Liste der beliebtesten und meistgesehenen Videos aus 2019 als Video. Schluss mit der Vision, was YouTube für unterschiedliche Menschen Unterschiedliches sein kann, und her mit den harten Fakten. (Dass die Kategorien-Auswahl trotzdem händisch und unvollständig ist, fällt da kaum ins Gewicht.) War ja schließlich ein Rekord-Jahr für YouTube, deswegen heißt das Rewind-Video dieses Jahr "For The Record". Was diese Rekorde eigentlich sind, verrät YouTube uns in dem Video aber auch nicht.
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Das Video erweckt den Anschein, dass YouTube als Plattform neutral sein könne, abhängig nur von den Menschen, die Videos machen und dem Publikum ausgeliefert, das allein dafür verantwortlich sei, welche Inhalte sich nach oben spülen. Das stimmt aber nicht. YouTube hat einen erheblichen Einfluss auf das, was auf der Videoplattform populär wird. Sei es über den Empfehlungs-Algorithmus, über Copyright-Strikes, über das automatische und händische Stoppen problematischer und illegaler Inhalte oder über die Monetarisierungs-Regeln, die kleinen oder werbe-ungeeigneten YouTubern das Leben schwer machen: YouTube hat sehr wohl die Kontrolle über die eigene Plattform.
Und das steht sogar in dem auf einer separaten Seite geposteten Erklärtext zu dem angeblich so neutralen Rewind-Video. Für die Kategorie "Top Breakout Creators" erklärt YouTube ganz deutlich: "The results were reviewed and filtered to ensure relevance for the core Rewind viewership demographic (historically 16+)." Trotz der Anmutung, nur Nutzer*innen-Zugriffe hätten über die Auswahl entschieden, hat YouTube diese Kanäle im Rewind-Video nochmal danach gefiltert, welche die meisten Rewind-Zuschauer vielleicht schon kennen könnten.
Es ist ja sinnvoll, dass die Plattformen ihre Inhalte kontrollieren und nicht ungefiltert alles veröffentlichen und groß machen, was Nutzer*innen hochladen. Aber sie müssen das klar sagen, auch über die offensichtlichen Pflichten hinaus (Nazis, Terroristen), und sich der Kritik an diesen Regeln stellen. Der Anschein der nutzergesteuerten Neutralität ist in jedem Fall gelogen.
Vielen Dank für's Lesen und Mitdenken!
Im Blog Confessio Digitalis schreibe ich meine Beobachtungen, Links und Interviews zu den Themen Digitalisierung, Digitale Kirche und digitalisierte Welt auf. Ich bin erreichbar auf Twitter als @dailybug.
P.S.: Leser*innen haben mich darauf hingewiesen, dass "Digitalis" auch der Name der Fingerhut-Pflanzen ist, die zu Gift verarbeitet werden können. Das lässt den Blogtitel "Confessio Digitalis" natürlich ein bisschen fies klingen. Andererseits behandelt man mit Digitalis-Präparaten auch Herzprobleme. Und dass das digitale Herz der Kirche besser schlägt, ist mir ein Anliegen. Deswegen lasse ich den Namen des Blogs so - nehmt es als Präparat!