Zunächst gab es ein Zeichen des stillen aber auch verzweifelten Protestes. Vor Beginn einer Podiumsdiskussion zum Thema Missbrauch legte ein Vertreter einer Opferorganisation Bilder von Kindern und Jugendlichen vor die Bühne, die missbraucht worden waren. "Kinder schützen, nicht Täter", stand auf weiteren Zetteln, die von Ordnern schnell wieder eingesammelt wurden.
Doch der Protest kam zurück, diesmal lauter. Der Leiter des Berliner Canisius-Collegs, Klaus Mertes, hatte gerade begonnen zu reden, als ein Mann mit kurzen grauen Haaren sich vor ihm aufbaute und laut rief: "Hören Sie auf mit diesem Affentheater. Nicht Sie haben das Schweigen über den Missbrauch gebrochen, es waren die Opfer selbst."
Durch Podium provoziert
Der Mann, der da rief, war Norbert Denef (Foto links), Sprecher des Netzwerkes Betroffener sexualisierter Gewalt. Schon am Vortag hatte er mit sichtlicher Unruhe eine andere Debatte zum Thema Missbrauch verfolgt und sich mit gelegentlichen "Unsinn"-Rufen eingemischt, etwa als die ehemalige Richterin Christa Seeliger forderte, Missbrauchstäter müssten lernen, "Nein" zu sich selbst zu sagen.
Am Freitag dann nahm er erst gar nicht Platz und forderte lautstark, Mertes müsse zurücktreten, zumindest aber müsse die Podiumsdiskussion sofort abgebrochen werden. Provoziert fühlte er sich offenbar schon durch die Zusammensetzung des Podiums, auf dem neben Mertes noch der Benediktiner und Therapeut Wunibald Müller, der Missbrauchsbeauftragte der Deutschen Bischofskonferenz, der Trierer Bischof Stephan Ackermann, die bayerische Justizministerin Beate Merk (CSU), die Freiburger Diözesanleiterin Andrea Heim und der Trierer Rechtsprofessor Gerhard Robbers, Präsidiumsmitglied des Deutschen Evangelischen Kirchentages (DEKT) teilnahmen.
Reden, um aufzuklären
"Es fehlte ein Vertreter der Opfer", kritisierte auch Ursula Enders, Leiterin der Opferorganisation "Zartbitter" in Köln. Stattdessen habe die Kirche "mit sich selbst" diskutiert und damit erneut ihre fehlende Sensibilität im Umgang mit den Opfern und fehlenden Willen zur Dialogbereitschaft bewiesen. Dies wiederum ließ der Kirchentag nicht auf sich sitzen. Bei der Vorbereitung habe man versucht, auch die Vertreter von Opferverbänden miteinzubeziehen, sagte der evangelische Kirchentagspräsident Eckhard Nagel.
Klaus Mertes jedenfalls schien durchaus bereit zum Dialog. "Nein, ich trete nicht ab", hielt er Denef entgegen. "Auch als jemand, der versagt hat, darf ich sprechen", sagte er und setzte seinen Vortrag nach Minuten des Tumults fort, nach denen sich Denef von der Bühne abwandte. Mertes sagte, man könne die Veranstaltung nicht auflösen, denn über das Thema müsse gesprochen werden, um Missbrauchsfälle zu verhindern und aufzuklären.
Ein Satz, für den Mertes viel Applaus erntete und der offenbar das ausdrückte, was viele Kirchentagsbesucher fühlten. Das Thema Missbrauch war in München überall präsent: im ofiziellen Programm, das auch Anlaufstellen für Opfer enthielt, ebenso wie in den Debatten am Rande. Oder auf kleinen Zetteln, auf die Kirchentagsbesucher in der Heiliggeistkirche in der Münchener Innenstadt Fürbitten schreiben konnten. "Ich bitte für die Priester und Bischöfe, dass sie erkennen, dass sie Jesus verraten, wenn sie so weitermachen wie bisher", stand auf einem dieser Zettel.
Neue Machtstrukturen?
"Die Missbrauchsdebatte macht mich traurig", sagte auch eine Frau, die als Zuhörerin einem der Podien folgte. Es schmerze sie als Christin, dass "so etwas" in ihrer Kirche möglich sei. Und es schmerze sie auch, dass sie nun in Debatten über ihren Glauben mit dem Thema Missbrauch konfrontiert werde. "Was soll ich denn Menschen sagen, die aus der Kirche austreten wollen?", fragte sie traurig und forderte: "Die Hierarchien müssen grundsätzlich umstrukturiert werden. Der Glaube, dass ein Mann in Kutte und Priestergewand nicht böse ist, ist falsch."
Was die Frau sagte, deckte sich mit dem, was auch Klaus Mertes auf dem Podium aussprach. Auch er forderte, die Machtstrukturen in der Kirche müssten sich ändern. Abweichende Meinungen dürften nicht als "antikatholisch" diffamiert und disziplinarisch geahndet werden. Den "Personenkult", der sich in den vergangenen Jahren in der Kirche entwickelt habe, halte er für "missbrauchsfördernd", sagte Mertes.
Der Schulleiter sagte viele kluge und wichtige Dinge, andere sagten sie auch. Dass die Opfer in den Mittelpunkt gestellt werden müssten: sagte beinahe jeder. Dass es mehr Therapieangebote für Opfer geben müssen: war Konsens. Dass die öffentliche Debatte nun endlich die Türen für Veränderungen geöffnet habe und die Verjährungsfristen bei Missbrauchsdelikten verlängert werden müssten: es gab keinen Widerspruch.
Handeln statt reden
Spannender als diese - nun ja - Selbstverständlichkeiten, die, so Diözesanleiterin Heim "keine Worthülsen bleiben dürfen, sondern in Handeln münden müssen", waren andere, vielleicht auch kontroverse Aspekte der Debatte.
Bischof Ackermann etwa verwies darauf, dass die Strukturen der Kirche nicht losgelöst seien von den Strukturen der Gesellschaft, in der Missbrauch auch in anderen Institutionen vorkomme. Zugleich warnte er unter den Pfiffen des Publikums davor, die Debatte um Missbrauch nicht auf Kirche und Kirchenpolitik zu verengen.
Wunibald Müller widmete sich dem Aspekt Homosexualität. Nicht diese sexuelle Orientierung oder das Zölibat seien die eigentlichen Risikofaktoren für Missbrauch, sagte er. Stattdessen liege das Problem in der unreifen, auch homosexuell-unreifen Sexualität, die jedoch durch das Zölibat zum Teil gefördert oder verstärkt werde. Homosexuelle nicht mehr zu Priestern zu weihen, würde einen "großen Verlust" für die Kirche bedeuten, sagte Müller. Eine Bereicherung hingegen sei die Priesterschaft für Frauen, die bedeute, "die Gottesebenbildlichkeit in der Priesterschaft zu konkretisieren". "Was bislang halb ist, würde ganz."
Keine Anzeige?
Bereits am Donnerstag hatte Ursula Enders bei einigen Kirchentagsbesuchern für Verblüffung gesorgt, als sie indirekt davor warnte, einen Missbrauch "automatisch und in jedem Fall" anzuzeigen. Eine Anzeige entlaste oft die betroffenen Institutionen, sei aber nicht im Sinne der Opfer, sagte Enders. "Die Justiz versagt in weiten Teilen gänzlich. Ein Prozess kann bis zu zwei Jahren dauern. Zwei Jahre, in denen wir zum Teil nicht mit den Opfern reden und arbeiten dürfen und diese sozusagen innerlich verbluten", sagte Enders. Exrichterin Seeliger brachte daraufhin das "Modell Schweden" ins Gespräch, wo bei einem Missbrauchsverdacht sofort nicht nur die Polizei, sondern auch ein psychiatrischer Dienst eingeschaltet werde und ein Kind nicht wie in Deutschland bis zu fünf sondern nur eine einzige Aussage machen müsse, die dann vor Gericht verwertet werde.
Viel zu tun also, für Politik und Kirche. Bischof Ackermann versprach, Missbrauchsfälle aufzuklären und am Runden Tisch der Bundesregierung auch über "einen Ausgleich für die Opfer" nachzudenken. Die Kirchentagsbesucher bat Ackermann, die Aufklärung aus einer "Mischung aus Vertrauen und Druck" zu begleiten.
Henrik Schmitz ist Redakteur bei evangelisch.de