"Tatort: Kleine Herzen", 14. Mai, 20.15 Uhr im Ersten
Die Erkenntnis ist nicht originell: Früher gab es den Dokumentarfilm und engagierte Reportagen, um auf gesellschaftliche Missstände aufmerksam zu machen. Da beide Genres im Zuge der kontinuierlichen Pogrammverflachung im "Ersten" immer stärker an den Rand gedrängt wurden, übernehmen mittlerweile Krimireihen wie "Tatort" oder "Polizeiruf 110" diese mahnende Funktion. Auch dieser Film aus München ist in erster Linie ein Sozialdrama, in dem sich der ausschlaggebende Todesfall eher beiläufig ereignet und die ermittelnden Kommissare konsequenterweise nur Nebenrollen spielen.
Annes Verstand klinkt sich irgendwann aus
In diesem Fall kann man das verschmerzen, denn im Zentrum von Film und Handlung steht eine der derzeit aufregendsten Nachwuchsschauspielerinnen: Die grandiose Janina Stopper war mit ihrem tiefgründig versonnenen Spiel schon kongeniale Partnerin für den famosen Dieter Pfaff ("Bloch: Die Wut"), einziger Glanzpunkt in einem ansonsten missglückten Bodensee-"Tatort" ("Blutsbande") und hat sich in dem Ehedrama "Verlassen" erfolgreich neben Martina Gedeck und Harald Krassnitzer behauptet. Sie allein trägt diese Geschichte vom jungen Mädchen, das schon mit 14 schwanger wurde, mit 18 immer noch Kind ist und sich trotzdem einer Aufgabe stellt, an der auch Erwachsene scheitern würden: zwei Jobs, ihren Sohn, die tägliche Organisation und die Erwartungen ihrer Umwelt (repräsentiert durchs Jugendamt) unter einen Hut zu bekommen. Dass dabei ein Mensch zu Tode kommt – Anne schubst im Streit ihre kaum ältere Schwägerin weg, die beim Sturz unglücklich auf den Kopf fällt - , ist für den Fortgang der Handlung nur insofern wesentlich, als die Kommissare Leitmayr und Batic (Udo Wachtveitl, Miroslav Nemec) auf diese Weise in die Geschichte verwickelt werden. Seine Spannung bezieht der von Filippos Tsitos gänzlich unaufgeregt, aber hochkonzentriert inszenierte Film (Buch: Stefanie Kremser) daher auch nicht aus der Suche nach der Täterin, sondern aus einem Ereignis jener Art, wie es immer wieder für traurige Schlagzeilen sorgt: Irgendwann klinkt sich Annes Verstand aus. Nachdem Sohn Tim beinahe überfahren worden wäre, ist er für sie wie tot; sie "vergisst" ihn kurzerhand in der Wohnung einer im Urlaub weilenden Frau, deren Blumen sie gießt. Der kleine Tim ist im Wohnzimmer eingeschlossen.
Bei aller Bewunderung für Stoppers Spiel: Annes "Burn-out" führt zu einem Bruch der Geschichte; fortan muss sich die junge Darstellerin wie ein Zombie durch die Handlung bewegen. Ihre Leistung aber ist dennoch erneut bemerkenswert.
Der Autor unserer TV-Tipps, Tilmann P. Gangloff, setzt sich seit über 20 Jahren als freiberuflicher Medienkritiker unter anderem für "epd medien" und die "Frankfurter Rundschau" mit dem Fernsehen auseinander. Gangloff (geb. 1959) ist Diplom-Journalist, Rheinländer, Vater von drei Kindern und lebt am Bodensee. Er gehört seit Beginn der 1990er Jahre regelmäßig der Jury für den Adolf-Grimme-Preis an und ist ständiges Mitglied der Jury Kinderprogramme beim Robert-Geisendörfer-Preis, dem Medienpreis der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD).