"Der andere Junge", 12. Mai, 20.15 Uhr im Ersten
Dieser Film steht für all das, was öffentlich-rechtliches Fernsehen gerade gegenüber der kommerziellen Konkurrenz auszeichnet: eine unbequeme Handlung und eine auf jede Effekthascherei verzichtende Inszenierung; die darstellerischen Leistungen sind zudem herausragend.
Mit Willi Gerk und Tim Oliver Schultz
Höchstwahrscheinlich wird der NDR dem "Ersten" mit dem Drama "Der andere Junge" keine Rekordquoten bescheren, dazu sind Geschichte (Lothar Kurzawa) und Umsetzung (Volker Einrauch) viel zu düster. Ähnlich konsequent ist allerdings auch die Freudlosigkeit: Schon die ersten Einstellungen machen deutlich, dass dies kein heimeliger Fernsehabend wird. Trotz Sonnenscheins verströmen die Bilder (Bernd Meiners) eine unangenehme Kälte. Die Ereignisse tun ein Übriges: Zwei befreundete Elternpaare, die sich regelmäßig zum Kartenspiel treffen, haben nicht die leiseste Ahnung, dass zwischen ihren Söhnen Todfeindschaft herrscht. Der 16jährige Robert Morell (Willi Gerk) ist recht klein für sein Alter und daher immer wieder Opfer der Hänseleien seiner Mitschüler. Am meisten tut sich dabei Paul Wagner (Tim Oliver Schultz) hervor, ein hübscher Junge eigentlich, hinter dessen Charme aber der pure Sadismus lauert. Eines Tages taucht Paul bei Robert mit einer Pistole auf, die er seinem Vater geklaut hat. Er drückt dem Kleineren die Waffe in die Hand und provoziert ihn so lange, bis der tatsächlich abdrückt. Anstatt die Polizei zu rufen, lässt Roberts Vater die Leiche verschwinden – und setzt damit eine Handlungskette in Gang, die schließlich ein weiteres Menschenleben kosten wird.
Pauls Vater übt Selbstjustiz
Die Besetzung der beiden Elternpaare ist exquisit: Pauls Eltern werden verkörpert von Peter Lohmeyer und Andrea Sawatzki, ihr Lebensgefährte Christian Berkel und Barbara Auer spielen das andere Paar. Ohne ins Klischee zu verfallen, genügen dem Film wenige Aspekte, um die Ehen zu charakterisieren. Als es Winnie Morell mit einem einfachen Trick gelingt, den Verdacht des ermittelnden Kommissars (Hinnerk Schönemann) auf einen Dealer (Adrian Topol) zu lenken, zieht Pauls Vater los, um Selbstjustiz zu üben. Er ist offenbar Sportschütze und hat gleich mehrere Waffen zuhause. Wäre das verboten, hätte es in dieser Geschichte keinen einzigen Toten gegeben.
Überragende Jungschauspieler
Bei allem Respekt vor der Leistung des prominenten Quartetts: Geradezu unheimlich gut sind die beiden Jungs. Selbst wenn Schultz recht früh aus der Handlung ausscheidet, hinterlässt gerade der Kontrast zwischen Aussehen und Auftreten einen tiefen Eindruck, zumal Kurzawa Erklärungen für sein Verhalten schuldig bleibt. Ähnlich intensiv ist die Leistung von Willi Gerk als Opfer, das zum Täter wird und dann mit dem Trauma der Tat leben muss.
Der Autor unserer TV-Tipps, Tilmann P. Gangloff, setzt sich seit über 20 Jahren als freiberuflicher Medienkritiker unter anderem für "epd medien" und die "Frankfurter Rundschau" mit dem Fernsehen auseinander. Gangloff (geb. 1959) ist Diplom-Journalist, Rheinländer, Vater von drei Kindern und lebt am Bodensee. Er gehört seit Beginn der 1990er Jahre regelmäßig der Jury für den Adolf-Grimme-Preis an und ist ständiges Mitglied der Jury Kinderprogramme beim Robert-Geisendörfer-Preis, dem Medienpreis der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD).