Ein besonderes Hobby: Worte sammeln
Sie liest sich wie ein Lexikon der Nullerjahre: Die "Wortwarte" von Lothar Lemnitzer. Vor zehn Jahren hat er begonnen, im Netz nach neuen Wörtern zu fahnden. Neu waren damals "verlinken" oder "scheinselbstständig". Nach dem 11. September 2001 kamen Begriffe wie "islamophob" und "Biobombe" dazu. Da die deutsche Sprache einfach nicht aufhört zu wachsen, will Lemnitzer auch über den zehnten Geburtstag hinaus sammeln.
07.05.2010
Von Andreas Block

Herr Lemnitzer, haben Sie heute schon wieder ein neues Wort entdeckt?

Lothar Lemnitzer: Ich bin gerade erst mit der Arbeit angefangen. Bislang ist aber noch nichts wirklich Spannendes dabei.

Woran erkennen Sie denn neue Begriffe?

Lemnitzer: Technisch ist das gar nicht so kompliziert. Ich lade jeden Tag Texte aus zehn Online-Medien runter. Ein Computerprogramm gleicht alle Wörter mit Archiven ab. Das Programm gibt dann eine Liste raus – und aus der picke ich Wörter nach inhaltlichen Kriterien raus.

Also schafft es gar nicht jedes neue Wort in Ihre Liste?

Lemnitzer: Absolute Eintagsfliegen oder falsch geschriebene Wörter haben keine Chance. Generell bin ich aber viel weniger streng als zum Beispiel der Duden. Witzige Sprachspiele schaffen es oft in meine Liste, aber natürlich nicht in den Duden – zum Beispiel "Muttivation" als Kombination aus "Mutti" und Motivation".

Kreative Leistungen

Haben Sie ein Lieblingswort unter all ihren neuen Wörter?

Lemnitzer: Ich fand vor ein paar Jahren die "Bierdeckelsteuer" super – rein sprachlich gesehen. Aktuell fällt mir auch die "Herdprämie“"ein. Solche Wörter sind toll, weil sie komplizierte Ideen auf den Punkt bringen. Das sind kreative Leistungen.

In Ihrer "Wortwarte" stehen mittlerweile etwa 33.000 Wörter. Macht unsere Sprache beim Wachsen eigentlich nie eine Pause?

Lemnitzer: Als ich vor zehn Jahren mit der Wortwarte angefangen bin, habe ich gedacht: Irgendwann gehen uns die Wörter aus. Aber das ist nicht passiert. Es gibt offenbar ein Level an Kreativität, das in der Sprache selbst angelegt ist. Dass der deutsche Sprachschatz generell wächst, sieht man auch, wenn man die letzten zehn Ausgaben des Dudens vergleicht. Die Seitenzahl hat sich mindestens verdoppelt.

In jeder ihrer Listen finden sich Wörter wie "Putzhappening" oder "Körperscanning". Viele Freunde der deutschen Sprache schimpfen über solche Anglizismen. Sie auch?

Lemnitzer: Nein. In der Tat gibt es in der Wortwarte viele denglische Begriffe aus der Internetwelt – zum Beispiel Musikdownload. Betrachtet man aber unseren gesamten Sprachgebrauch, machen Anglizismen nur einen kleinen Teil davon aus. Und der ist seit den 50er Jahren nur geringfügig gewachsen. Weil die englischen Wörter so auffällig sind, neigen viele dazu, ihre Rolle in der deutschen Sprache zu überschätzen.

Steinbruch der Sprache

In hundert Jahren sind ihre Listen für Historiker sicher ziemlich wertvoll. Denken Sie daran bei Ihrer Auswahl?

Lemnitzer: Der Zeitgeist spiegelt sich sicher in der Sammlung. Ich habe aber nicht den Anspruch, etwas Lexikalisches zu schaffen. Dafür ist meine Auswahl zu unsystematisch, ich müsste im Nachhinein tausende Wörter wieder rausschmeißen. Ich betrachte die Wortwarte eher als eine Art Steinbruch unserer Sprache. Einige Entwicklungen lassen sich aber daraus ablesen.

Zum Beispiel?

Lemnitzer: Ich habe mal alle neuen Wörter betrachtet, die mit "Cyber" beginnen. Da ist ein Trend erkennbar. Vor zehn Jahren waren das überwiegend Wörter mit positiver Bedeutung. Die Gesellschaft hat damals vor allem die Chancen des Internets gesehen. Das ist irgendwann gekippt. Heute findet man vor allem Wörter wie "Cybersex" und "Cyberkriminalität" aus den dunklen Ecken des Internets.

Warum entstehen überhaupt neue Begriffe? Statistisch gesehen benutzt der Durchschnittsdeutsche doch ohnehin nur etwa 5.000 Wörter.

Lemnitzer: Richtige Wortneuschöpfungen sind ziemlich selten. Ein modernes Beispiel ist "simsen", also eine SMS schreiben. Das hat man vor dreißig Jahren nicht getan, nun hat man aber einen Begriff dafür benötigt. Viele öfter erschaffen wir neue Wörter, um Dinge abzugrenzen. Jahrzehntelang hat es gereicht, einen Fotoapparat auch Fotoapparat zu nennen. Dann kam die Digitaltechnik – und plötzlich hatte man zwei neue Wörter: Digital- und Analogkamera. Daran sieht man: Die deutsche Sprache lebt. Im Lateinischen werden sie außerhalb des Vatikans nur wenige neue Wörter finden.



Lothar Lemnitzer ist Linguist und arbeitet an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Seine Erfahrungen als Wortfahnder hat er auch in den Büchern "Von Aldianer bis Zauselquote" und "Hirndiebstahl im Sparadies: Was so (noch) nicht im Duden steht" aufgeschrieben.

Andreas Block ist freier Journalist und lebt in Dortmund