Kindersoldat: "Ein Wunder, von dem ich nie geträumt hätte"
Zwischen 3.000 und 5.000 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge leben zur Zeit nach Schätzung einer terre-des-hommes-Studie in Deutschland. Drei bis vier Prozent von ihnen sind ehemalige Kindersoldaten - wie Brima, der nach dem Krieg in Sierra Leone in Deutschland nach einer neuen Heimat sucht.
05.05.2010
Von Hanno Terbuyken

"Es schneit nie in Sierra Leone." Das ist einer der Sätze, die Brima sagt. Durch das Fenster weht ein warmer Frühlingshauch, die Münchener Luft trägt das Versprechen eines schönen Sommers mit sich. Aber in Brimas Erinnerung ist der Frühling noch nicht angekommen. Brima, das ist nicht sein richtiger Name, es ist ein Name, der ihm gefällt. 18 Jahre alt ist er, seit November 2009, das steht auf seiner Geburtsurkunde.

Über zehn Jahre lang war Bürgerkrieg in Sierra Leone. Brima war dabei. Er war Kindersoldat, und seine Geschichte hat viele Anfänge. Einer davon liegt mitten im Naturpark Bayrischer Wald, nahe der tschechischen Grenze. Böbrach heißt der Ort, und im Gegensatz zu Sierra Leone schneit es dort, als Brima sich im Herbst 2008 dort wiederfindet. Er hat keine guten Erinnerungen an diesen Ort. Damals war er noch nicht 18, aber die Asylbehörde hat ihn trotz seiner Geburtsurkunde als Erwachsenen eingestuft. Und das hieß: Erstmal ins Asylbewerberheim.

Ein vergessener Ort im Bayrischen Wald

"Dieser Ort hat nichts, was man dort machen könnte", erinnert sich Brima. Zwei bis drei Stunden ist man zu Fuß unterwegs in die nächste größere Stadt. "There is a bus", es gibt einen Bus, sagt er, aber der kommt nur zweimal am Tag. Sechs Euro kostet die Busfahrkarte vom Heim in die Stadt, sagt Brima. Bis zur tschechischen Grenze sind es 30 Kilometer, bis zur nächsten Kreisstadt 70. Es ist ein vergessener Ort. Für Asylbewerber gibt es nichts zu tun dort. "Esssen, schlafen", das ist es dann auch schon.

Brima lernt andere Ausländer kennen, auch Jugendliche in seinem Alter, die nicht als Erwachsene eingestuft wurden. Ein Freund in München, auch aus Sierra Leone, erzählt seinem Betreuer in der Jugendhilfe von Brima in Böbrach. Albert Riedelsheimer heißt der Betreuer. Er arbeitet schon seit Jahren als Vormund beim Katholischen Jugendsozialwerk in München, und er kennt das Problem. Riedelsheimer verschafft Brima eine gerichtliche Anhörung. "Die Richterin hat gesagt, sie glaubt mir und ich könnte nach München zurück", erinnert sich Brima mit einem Lächeln. "Sehr, sehr glücklich" habe ihn das gemacht.

Geiseln und Kriegsspione

Die Geschichte des Flüchtlings Brima beginnt auch mit einem Wunder. So sagt er es selbst: "Es war ein Wunder, von dem ich nicht einmal geträumt habe. Ich hätte nie gedacht, dass das mir passieren könnte." Seine Erzählung lässt die weißen Wände des Münchener Büros verschwinden, trägt einen auf einen anderen Kontinent und in eine andere Welt. Es ist die Welt des Krieges. "Mein Vater war in der Armee von Sierra Leone", beginnt er seine Geschichte. Brima, seine Mutter und zwei Schwestern hörten zu Beginn des Krieges noch regelmäßig von ihm. Er schickte seinen Sold nach Hause, "bis wir nichts mehr von ihm hörten. Niemand weiß, was mit ihm passiert ist."

[listbox:title=Weitere Informationen im Netz[Der Red-Hand-Day;terres des hommes zu Kindersoldaten;Aktuelle Studie zum Thema;Internationale Webseite zum Thema Kindersoldaten;Wikipedia-Artikel zu Sierra Leone]]

Dann kamen die Rebellen nach Lungi, die Stadt, in der Brima lebte. "Wir hatten Angst und Panik, ich, meine Schwestern, meine Mutter, und flohen in Richtung Guinea", in den Nachbarstaat. Auf dem Weg holte der Krieg die Familie ein. Sie suchten Unterschlupf in einem Dorf. Brima erzählt: "Eines Nachts griffen die Rebellen das Dorf an und nahmen uns als Geiseln. Sie sagten mir und zwei anderen Jungen, wir sollten ihnen Informationen besorgen. Wir sollten morgens losgehen und abends mit Neuigkeiten oder anderen Informationen zurückkommen. Sie hielten meine Mutter und meine Schwestern fest, so dass ich nicht fliehen konnte."

Nach dem Krieg ging die Familie zurück nach Lungi, aber Brima suchte nach einem Weg aus dem Land. Per Schiff kam er nach Freetown, Sierra Leones Hauptstadt. Dort traf er jemanden, der ihm eine Schiffspassage besorgen konnte: "Er brachte mich zu einem Freund, der auf einem Schiff arbeitete. Er nahm mich mit auf das Schiff, und so kam ich nach Deutschland." In Bremen beantragte er Asyl und wurde von dort nach München geschickt. So kam Brima nach Böbrach.

Menschen als Menschen ernst nehmen

Brima erzählt keine Details von dieser Flucht, die er als Wunder empfindet. Vor allem wollte er weg, das wird deutlich. Seine Mutter ist gestorben, seine Schwestern leben bei der Großmutter. "Es ist über fünf Jahre her, dass ich sie gesehen habe", sagt Brima leise. Ein Leben in Deutschland bedeutet für ihn auch, den Kontakt in die Heimat abzubrechen.

Für den neuen Anfang in Deutschland, nach Sierra Leone, nach Böbrach, ist Albert Riedelsheimer zuständig. Er ist Sozialpädagoge und Vormund beim Katholischen Jugendsozialwerk in München. 40 Mündel betreut er, bis nach Augsburg reicht sein Gebiet. Er hat Brima aus Böbrach geholt und ihm in München einen Platz zum Leben verschafft – erst im Wohnheim, dann in einer WG.

"Heim", "Wohngemeinschaft", "Ausländerbehörde", "Deutschkurs", das sind Wörter, mit denen sein Mündel keine Probleme hat, auch wenn Brimas Deutsch noch holpert. Es ist die nicht nur die Kriegswelt, sondern auch die Behördenwelt, aus der Riedelsheimer seine Mündel langsam herausholen will. "Die größten Probleme sind, dass Menschen sich nicht ernst genommen fühlen als Mensch", kritisiert er die Bürokratie. Sie passt nicht zu dem Schicksal von Kindersoldaten.

"Vermerk: Der Antragsteller bricht in Tränen aus"

Riedelsheimer erzählt von einem anderen Fall, ein Jugendlicher, der erst vor kurzem nach Deutschland kam. "Der sagt immer noch "yes, sir" zu mir, so wir beim Militär." Noch hat Riedelsheimer für ihn keinen Therapieplatz gefunden, wo er die Erlebnisse des Krieges aufarbeiten könnte. Als Aufnahmeritual, berichtet Riedelsheimer, musste der Junge seinen Onkel erschießen. Mehrmals ist er in Gesprächen heulend zusammengebrochen unter der Last der Erinnerungen. "Da habe gemerkt, wie schief eine Anhörung vor dem Bundesamt gehen kann, auch wenn sie formal absolut korrekt ist."

Denn wenn es um das Bleiberecht geht, spielt der Mensch kaum eine Rolle. "Allein einen ehemaligen Kindersoldaten zu fragen, ob er regulären Wehrdienst geleistet hat. Und wenn man dann jemanden immer wieder fragt, welche Dörfer er überfallen hat oder so und das völlig unbeteiligt aufschreibt, und dann noch dazu diktiert: 'Vermerk: Der Antragsteller bricht in Tränen aus', da fehlt mir einfach ein Stück weit Empathie", schimpft Riedelsheimer in seiner sanften Art über die Bürokratie. "Ich war froh, dass ich da die Kraft gefunden habe, zu sagen: Jetzt machen wir Schluss, wir brechen die Anhörung einfach ab!"

Ein möglichst eigenständiges Leben

Bei Brima war das einfacher, seine Geschichte hat ihn bisher nicht so sehr traumatisiert wie die anderer Kindersoldaten, die unter Albert Riedelsheimers Aufsicht stehen. Er ist schon so weit, über seine Zukunft in Deutschland nachzudenken. Ein Praktikum als Krankenpfleger hat er schon hinter sich, lernt fleißig Deutsch, hat hier schon Freunde gefunden – aber keine Deutschen. "Die meisten Freunde, die ich habe, sind aus Irak, Afghanistan oder aus Afrika. I have no deutsche friend." Deutsche geben sich nur mit Leuten ab, die sie kennen. Vor dunkelhäutigen Afrikanern haben viele Angst, sagt Brima.

Angst hat er auch, Angst vor der Abschiebung. "Ich bin seit einem Jahr und sechs Monaten in Deutschland", sagt er, "und ich habe noch nichts von der Ausländerbehörde gehört, ob ich hierbleiben darf." Er sagt es auf englisch, nur "Ausländerbehörde" nicht. Es ist ein sehr deutsches Wort. Nach Sierra Leone will er nicht zurück. Auch Albert Riedelsheimer will das verhindern: "Das Ziel ist immer, dass sie möglichst selbstständig sind. Das Ziel ist immer, möglichst viel auf die Gleise zu bringen in Richtung eigenständiges Leben."

Sobald die Ausländerbehörde entschieden hat, wird Brima wissen, wie es weitergeht. Es soll kein neuer Anfang sein. Vielleicht wird es zum ersten Mal eine Fortsetzung für den ehemaligen Kindersoldaten aus Sierra Leone.


 

 

Hanno Terbuyken ist Redakteur bei evangelisch.de und betreut die Ressorts Gesellschaft, Wissen und Umwelt.