Auch Fußballstars haben zerbrechliche Seelen
Die Bundesligasaison endet mit dem Meistertitel für Bayern München - und Hertha BSC steigt ab. Für Bernhard Felmberg, Sportbeauftragter der EKD und Fan von Hertha, ganz bitter. Aber was zählen Siege und Niederlagen, wenn die Seele Schaden nimmt? Wie bei Robert Enke. Sein Suizid löste einen Schock in der ganzen Gesellschaft aus.
05.05.2010
Von Bernhard Felmberg

Als Pfarrer, der sich seit Jahren bei Gottesdiensten und Andachten im Berliner Olympiastadion engagiert und sein pastorales Ohr den Fans und Profis von Hertha BSC leiht, kann ich nicht umhin, diese Saison als eine wirklich Verkorkste zu bezeichnen. Ja, so subjektiv wabern in mir die fußballerischen Gefühle: "Wir" sind abgestiegen! "Wir" haben nicht die Chancen ergriffen, um das "Wunder von Berlin" perfekt werden zu lassen. Nach einer Hinrunde mit dürftigen sechs Punkten hätten wir in der Rückrunde die einmalige Chance gehabt, zu zeigen, dass im Fußball wirklich alles möglich ist. Ja, im Fußball ist alles möglich, aber eben nicht immer.

Trotz alledem haben wir in dieser Saison schöne Dinge erlebt. Ein einziges Heimspiel hat die Hertha im Olympiastadion gewonnen - und trotzdem haben die Fans zu ihrer Mannschaft gestanden. Vor den Heimspielen waren die Andachten durch die Fans, das Präsidium, den Aufsichtsrat sehr gut besucht. Wir haben mit so vielen Fans "Lobe den Herrn, den mächtigen König" gesungen, dass die Kapellenwände wackelten. Nach den Spielen beteten wir mit manchem Spieler das "Vater Unser" und sprachen den Segen, bevor die Spieler zu ihren Familien heimkehrten oder Autogramme gaben. Wie gut, dass Gott uns auch in den stärksten Niederlagen trägt.

Bibelvers im Olympiastadion

Ja, diese Saison hatte für fast jeden Verein Höhen und Tiefen, keiner der Bundesligisten hatte immer den ganz großen Lauf. Am Ende stehen jetzt die Bayern an der Tabellenspitze – wieder einmal - , aber selbst das stand nicht von Anfang an fest – von der Möglichkeit der Mannschaft zum "Triple" einmal ganz zu schweigen.

Aber was sind schon Siege und Niederlagen im Sport, wenn das Leben auf der Strecke bleibt. Im Olympiastadion in Berlin steht aus diesem Grund an der Kapellenwand der Bibelvers: "Was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne und nähme doch Schaden an seiner Seele." (Mt 16,26)

Der Tod des deutschen Nationaltorwarts Robert Enke am 10. November 2009 hat in besonderer Weise die Aufmerksamkeit darauf gelenkt, dass Sport mehr ist als das Endergebnis. Der Suizid des beliebten Sportlers hat große Bestürzung nicht nur bei Fußballfans, sondern in weiten Teilen der Gesellschaft hervorgerufen, besonders, als bekannt wurde, Enke habe an Depressionen gelitten. Die erhöhte Aufmerksamkeit für dieses Thema verstärkte die öffentliche Trauer, die für Manchen sicher auch stellvertretend stand für eigene unterdrückte Gefühle. Deutlich wurde, wie groß der Druck auf Leistungssportler ist, Schwächen zu verbergen, und welche Folgen es haben kann, wenn hinter der Fassade der Mensch nicht mehr sichtbar ist.

Verschränkung von Sport und Glaube

Bereits am Tag nach seinem Tod fand in der Marktkirche im Zentrum Hannovers eine Andacht statt, an der neben der Familie Enkes auch Mitglieder der Spitze des Deutschen Fußballbundes (DFB) und der deutschen Nationalmannschaft, sowie gut 2.000 Trauernde in und vor der Kirche teilnahmen. Am Beispiel dieses Gottesdienstes, dem Umgang mit der Trauer und der gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Thema Depression lässt sich gut nachvollziehen, wie sinnstiftend und heilsam die Verschränkung von Sport und christlichem Glauben sein kann.

Die damalige Landesbischöfin Margot Käßmann hielt die Predigt. Zu Beginn zitierte sie den Text des Fansongs "You'll never walk alone". Du wirst nie alleine unterwegs sein - das sei "die große Lebenszusage, die Gott uns gibt", sagte sie und fügte hinzu: "Wir vertrauen darauf: Du kannst nie tiefer fallen als in Gottes Hand!" Was sonst tabuisiert wird, sprach sie in ihrer Predigt in aller Deutlichkeit an: "Hinter Glück, Erfolg und Beliebtheit können abgrundtiefe Einsamkeit und Verzweiflung liegen, die Menschen an ihre Grenzen führen."

Ausgehend von dieser Wahrheit benannte die Bischöfin auch die Konsequenzen, die auf dem Grund unseres christlichen Menschenbildes geboten sind: "Der Tod eines Sportlers gebietet es besonders im Leistungssport, den Lauf anzuhalten, damit deutlich wird: Fußball allein ist nicht unser Leben, sondern Liebe zueinander, Gemeinschaft, sich gehalten wissen auch in allen Schwächen unseres Lebens, das zählt."

Christliche Botschaft entfaltet sich

Wie sehr Käßmanns Worte wirkten, zeigte sich beispielsweise am darauffolgenden Sonntag: DFB-Präsident Theo Zwanziger stellte sie bei der Trauerfeier im Stadion von Hannover 96 in den Mittelpunkt seiner Traueransprache: "Vor meinen Augen stehen zwei Sätze, gesprochen von Bischöfen der Evangelischen Kirche. Der eine, am Mittwochabend von Bischöfin Käßmann: 'Fußball ist nicht alles.' Fußball, meine Damen und Herren, liebe Trauergemeinde, darf nicht alles sein. (...) Fußball darf nicht alles sein, liebe Eltern, wenn Ihr daran denkt, ob Eure Kinder einmal Nationalspieler werden könnten. Denkt nicht nur an den Schein, an das, was sich dort zeigt, über die Medien verbreitet. Denkt auch an das, was im Menschen ist, an Zweifeln und an Schwächen. Fußball ist nicht alles. Aber, meine Damen und Herren, es gibt auch den anderen Satz. Vor dreieinhalb Jahren begann die Weltmeisterschaft mit einem Gottesdienst in München. Damals, die Sonne begann genauso wie hier den Nebel und den Regen zu verdrängen, sprach Bischof Huber: 'Fußball ist ein starkes Stück Leben.' Ja, Fußball kann ein starkes Stück Leben sein. Wenn wir nicht nur wie Besessene hinter Höchstleistungen herjagen. Wir dürfen uns anstrengen, ja, aber nicht um jeden Preis. Denn, so formulierte er damals, den wirklichen Siegerpreis werden wir auf Erden nicht empfangen. Wir müssen uns dieses Preises würdig erweisen."

An diesem Beispiel zeigt sich, wie die christliche Botschaft, wo sie gelingend in die Lebenswirklichkeit der Menschen gesprochen wird, sich weiter entfaltet, die Wirklichkeit verändert und Menschen, wie hier Theo Zwanziger, zum öffentlichen Bekennen bewegt.

Und so hat diese Saison 2009/2010 in unvergleichlicher Weise mehr zum Schwingen gebracht als nur die Gefühle von Siegern und Verlieren. Sie hat uns vielmehr noch einmal deutlich gemacht, dass sich auf dem Rasen der Bundesligastadien Menschen bewegen, die eine zerbrechliche Seele haben wie wir alle. Auf diese sollten wir alle achten – auch in der nächsten Saison – egal, ob "unsere" Mannschaft im Oberhaus oder Unterhaus des deutschen Fußballs spielt.


Über den Autor:
Prälat Dr. Bernhard Felmberg ist Sportbeauftragter der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD).