Islam: Verhältnis zur Mutter ist ein ganz besonderes
"Der Schlüssel zum Paradies liegt zu Füßen der Mütter", sagt der Koran. Muslimische Kinder müssen sich sehr tief bücken.
05.05.2010
Von Necla Kelek

Für Faruk, einen meiner muslimischen Studenten, wurde der Muttertag zum schrecklichsten Tag des Jahres. Er war verliebt und wollte mit seiner Freundin in eine gemeinsame Wohnung ziehen und sie vielleicht einmal heiraten. Zum Entsetzen seiner Eltern. Sein Vater erklärte kategorisch: "Wenn du das tust, bist du nicht mehr mein Sohn." Faruk kümmerte das nicht, denn von ihm ­hatte er nichts anderes erwartet. Aber die Reaktion seiner Mutter erschütterte ihn. Als sie erfuhr, dass er ausziehen wollte, und dann noch wegen einer Deutschen, einer Christin, warf sie sich auf die Knie und schlug ihren Kopf vor ihm auf den Boden. Sie schrie: "Hätte ich doch Steine geboren statt dich, hättest du Gift gesaugt statt meiner Milch. Allah möge dir keinen Tag Freude schenken. Wenn du das wirklich tust, werde ich dich und deine Kinder bis ans Ende der Welt verfluchen." Die bildhafte türkische Umgangssprache ist oft martialisch. Ein türkischer Psychiater sagte mir einmal, wenn die Flüche, die sich die Muslime jeden Tag an den Kopf werfen, Realität würden, gäbe es keine Muslime mehr.

Verhältnis zur Mutter ist etwas ganz Besonderes

Faruk fragte mich, was er tun solle. Ich riet ihm, bei seiner Entscheidung zu bleiben, er sei für sich und sein Glück selbst verantwortlich. Ein anderer junger Mann, der ebenfalls gegen den Willen der Eltern ausgezogen war, spielte mir in seiner Studentenbude Tonbandkassetten vor, die er von seiner Mutter geschickt bekommen hatte. Darauf waren stundenlanges Weinen und Klagen zu hören. Um es gleich zu betonen - das sind Extreme. Nicht jede muslimische Mutter reagiert so, wenn die Kinder ihren eigenen Weg gehen, statt sich in die von der Familie geplante Zukunft zu fügen. Aber diese Ereignisse sagen etwas über eine Haltung, denn das Verhältnis zur Mutter hat in der muslimischen Gemeinschaft eine ganz besondere Bedeutung.

Als Mädchen von 14 Jahren war ich - weil ich deutsch lesen, schreiben und reden konnte - in der kleinen niedersächsischen Kleinstadt die Übersetzerin, Antragstellerin für die türkischen Frauen bei Verwandten und Bekannten. Ich ging mit den Frauen zum Arzt und berichtete ihm von ihren Leiden, verkündete die Diagnosen und erklärte, wie viele Tabletten eingenommen werden sollten. Ich füllte auf Behörden Anträge aus, schrieb Überweisungen auf der Sparkasse, Entschuldigungen für die Schule und las den Frauen ihre Briefe vor. Ich war für sie "kizim", meine Tochter. Das bedeutete, dass ich nicht nur meine eigene Mutter hatte, sondern viele. Und dass ich ihnen denselben Respekt und die­selbe Aufmerksamkeit schenkte wie meiner eigenen Mutter. Auch ging ich zum Muttertag bei meinen vielen Müttern vorbei, überbrachte kleine Geschenke und Glückwünsche. Als ich bei einer Tante zu spät auftauchte, ging eine Strafpredigt auf mich nieder. Ich hatte mich respektlos gezeigt, weil ich sie einen halben Tag warten ließ. Ich war wie jedes Mädchen in der Gemeinschaft das kollektive Mädchen, das auch der kollektiven Mutter Aufmerksamkeit zu schenken hatte. In traditionell muslimisch-türkischen Kreisen wird immer noch alles zum "Wir", da wachen Männer über fremde Frauen, Jungen über fremde Mädchen, weil jeder zur großen Gemeinschaft gehört, die Respekt, das heißt Gehorsam erwartet und "so etwas" nicht tut.

So hat die Mutter, wie auch in anderen Weltreligionen, in der muslimischen Gesellschaft eine besondere Bedeutung. Und doch ist ihre Rolle im Vergleich besonders. "Der Schlüssel zum Paradies liegt zu Füßen der Mütter", predigte Mohammed, der selbst als Kind bei einer Amme aufgewachsen war und nur als sechsjähriger Junge eine kurze Reise mit seiner leiblichen Mutter unternommen hatte, bevor sie starb. Wo immer Mütter im Koran erwähnt werden, treten sie als geheiligte Wesen auf. Dem Sohn, der der Mutter gegenüber Ungehorsam zeigt, drohen Höllenqualen - wer seine Mutter zum Weinen bringt, so hörte ich einen Imam in einer Hamburger Moschee predigen, wird ertrinken.

Säule des traditionell islamischen Lebens

Die absolute Verehrung der Mutter ist bis heute eine Säule des traditionell islamischen Lebens und das Verhältnis von Söhnen zu ihren Müttern wie eine Heldenverehrung - mit den entsprechenden Folgen für die Psyche der Jungen und die Institution der Ehe. Die Bindung zwischen Mutter und Sohn wird nie beendet. Nicht einmal verändert. "Im Gegenteil", schreibt die marokkanische Soziologieprofessorin Fatima Mernissi: "Die Hochzeit - in den meisten Gesellschaften eine Art Initiationsritual, das es dem Sohn ermöglicht, sich von der Mutter zu lösen - ist in der Tradition der islamischen Gesellschaft ein Ritual, das den Einfluss der Mutter auf den Sohn noch verstärkt. Mit der Hochzeit wird die Trennung zwischen Liebe und Sexualität im Leben des Mannes institutionalisiert; er wird darin bestärkt, eine Frau zu lieben, mit der er keinen Geschlechtsverkehr haben kann: seine Mutter."

Die angeheiratete Frau bleibt dagegen ein Leben lang die Fremde, die "gelin", wie es auf Türkisch heißt. Die Liebe ist der Mutter und Allah vorbehalten. Liebe zwischen Mann und Frau ist nicht ­vorgesehen, und so überraschen mich auch die afghanischen ­Gesetze nicht, die vorschreiben wollen, dass die Frau dem Mann zur Verfügung zu stehen hat. Nach den Auffassungen der muslimischen Männergesellschaft ist die Ehe ein Vertrag und die Frau ein Besitz.

Atatürk hat die türkische Gesellschaft revolutioniert, auch indem er den Frauen gleiche Rechte in der von ihm favorisierten Kleinfamilie zuwies und viel dafür tat, dass sie berufstätig sein konnten. Obwohl auch er, dem alten Pathos verhaftet, verkündete: "Die wichtigste Aufgabe einer Frau ist das Muttersein", öffnete er gleichzeitig die Schulen für Mädchen. Aber er konnte seine emanzipativen Ideen nicht in Anatolien durchsetzen, und seine Nachfolger kassierten nach und nach die Rechte der Frauen und Mädchen, so dass heute in ländlichen Gebieten der Türkei die Analphabetenrate gerade bei Frauen immer noch besonders hoch ist. Seit die AKP regiert und Premierminister Recep Erdogan wieder die Rolle der Frau als Mutter in den Mittelpunkt der Frauenpolitik stellt, ist die Beschäftigungsrate von Frauen in bezahlten Tätigkeiten dramatisch zurückgegangen. War noch vor dem Jahr 2000 jede dritte Frau erwerbstätig, ist es heute nur noch jede vierte. Frauen tragen eine entscheidende Verantwortung für die Zukunft ihrer Kinder und somit in der Gesellschaft. Sie machen die Jungen zu "Prinzen", verwöhnen sie und lassen sie nicht erwachsen werden. Sie weisen den Mädchen die Rolle als dienende Wesen zu. Sie, die selbst in dem patriarchalischen System ge­fangen sind, stützen das System immer wieder weiter. Sie sind die Hüter des Hauses und des Patriarchats.

Unterschiedliche Auffassungen

Damit wir die Kirchen nicht aus dem Blick verlieren: Auch in den christlichen Gemeinschaften gibt es unterschiedliche Auf­fassungen von der Rolle der Mütter. Während die Protestanten vor allem die Selbstverantwortung des Einzelnen betonen und in ­ihren Kirchen Jesus als erwachsenen Mann verstehen, der die Sünden der Welt auf sich genommen hat, verehrt die katholische Kirche nicht selten Jesus als Kind und Maria als Mutter. Ein Papst erklärte seine Liebe ganz besonders gegenüber der Mutter Gottes. Auch die Befreiung aus dieser religiösen Klammer fällt nicht leicht. Die Kirchen der Reformation haben die Mutter entzaubert. Sie verweisen auf den Bibelvers "Meine Mutter und meine Brüder sind diese, die Gottes Wort hören und tun" (Lukas 8,21).

Was der muslimischen Gemeinschaft in der modernen Gesellschaft Probleme macht: Sie gesteht den jungen Menschen nicht die Entscheidung über ihr eigenes Leben zu, sondern versucht, den Kindern immer noch eine Art "Daseinsschuld" aufzuerlegen, die sie moralisch drängt, diese Schuld gegenüber den Müttern ein Leben lang abzutragen. Eine Veränderung dieser alten Tradition können die jungen Frauen und Männer nur selbst in die Hand nehmen. Sie müssen sich durchsetzen und ihre Ehepartner selbst aussuchen, damit eine partnerschaftliche Ehe oder Beziehung möglich wird. Sie müssen Verantwortung für ihr eigenes Leben übernehmen. Wenn es nicht anders geht, müssen sie die Mutter verlassen. Das ist kein Verrat, sondern gelebte Selbstverantwortung.

Faruk hat es geschafft. Er schreibt heute seiner Mutter freundliche Karten zum Muttertag. Er sagt, sie sei zwar immer noch beleidigt, weine aber jedes Mal vor Rührung.


Necla Kelek, 51, ist promovierte Soziologin. Sie schreibt über den Islam, über Integration und Identität der Muslime in Deutschland. Sie ist beratendes Mitglied der Deutschen Islamkonferenz. Der Artikel ist erschienen in der Ausgabe 08/2009 des Magazins chrismon.