Irgendwann war es dem Mann mit dem weißen Hemd und dem grauen Pullover zu viel. Er hatte sich anhören müssen, dass Jugendliche mit Pornos im Internet und auf dem Handy eigentlich ganz gut umgehen können, junge Menschen einfach andere Einstellungen haben als Erwachsene und Tabubrüche für eine Gesellschaft heilsam seien, weil sie Grenzen versetzten und damit für Dynamik, ja vielleicht sogar für eine Befreiung von überkommenen Moralvorstellungen sorgten.
Unruhig war der Mann währenddessen auf seinem Stuhl hin und her gerutscht und hatte die Stirn gerunzelt. Er hatte Jugendliche im Kopf, die Gruppensexvideos auf dem Schulhof tauschen, Kinder, die im Internet Vergewaltigungsvideos sehen. Und er hatte Songs im Ohr, in denen Rapper Frauen – bestenfalls - als "Hure" bezeichnen. Jetzt nutzte er die Chance, griff zum Mikrofon, stellte sich als Sozialpädagoge vor und brach eine Lanze für den Jugendmedienschutz: "Es geht darum, die Gefährdeten zu schützen. Wir müssen Jugendliche vor Inhalten bewahren, mit denen sie nicht fertig werden. Auch, wenn die Mehrheit der Jugendlichen von diesen Inhalten nicht betroffen sein sollte."
Bildungsferne Schichten
Das Statement hätte auch am Ende der Tagung "Tabubruch, Medienexhibitionismus und Jugendkultur – Herausforderungen für den Jugendmedienschutz" stehen können. Und wenn es so etwas wie ein Ergebnis gab nach vielen Diskussionen und Vorträgen zu den vielen Aspekten dieses Themas, dann vielleicht, dass es vor allem Jugendliche aus bildungsfernen Schichten sind, die nicht zu einem reflektierten Umgang mit Medieninhalten in der Lage sind. Sie sind es, die deshalb Gefahr laufen, zu "verrohen", wie es ein Tagungsteilnehmer ausdrückte. Und sie sind es, die der Jugendmedienschutz vor allem im Auge haben muss.
Der Jugendmedienschutz ist ein weites Feld, das wurde schnell deutlich in Hamburg. Tabubrüche wurden ebenso diskutiert wie die massenhafte Zurschaustellung und Offenlegung selbst intimster Lebensbereiche im Internet und der offenbar massenhafte Konsum von Pornografie durch Jugendliche im Internet. Wie mit diesen Phänomenen umzugehen ist, darüber gab es Differenzen. Und auch darüber, ob diese Auswüchse der neuen Medienwirklichkeiten bei Jugendlichen tatsächlich Schaden anrichten.
Vielleicht schon deshalb, weil sich der Lebensbereich Medien so rasant ändert, wie kaum ein anderer, wie der Medienbeauftragte der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Markus Bräuer, zu Beginn der Tagung sagte. Ein Wandel, der sich im Jugendmedienschutz spiegelt. "War in den 50er Jahren nahezu jede Darstellung von Sexualität, wie Privatheit im Allgemeinen verpönt, hat im Laufe der letzten Jahrzehnte eine Enttabuisierung beträchtlichen Ausmaßes stattgefunden", sagte NDR-Intendant Lutz Marmor.
Tabubrüche
Der Medienwissenschaftler Joachim von Gottberg von der Freiwilligen Selbstkontrolle Fernsehen dokumentierte diesen Wandel in einem Vortrag, in dem er verschiedene mediale Tabubrüche - man kann auch von Medienskandalen reden - aufzählte. Sorgte in der 50er Jahren der Film "Die Sünderin" noch für Aufsehen, weil hier sowohl Prostitution als auch Sterbehilfe moralisch legitimiert wurden, so gilt heute eher ein Dieter Bohlen als bedenklich, der in seiner Sendung "Deutschland sucht den Superstar" Minderjährige anpöbelt. Ein großer Unterschied, wie eine Tagungsteilnehmerin bemerkte. Im Fall der "Sünderin" sei der Tabubruch sinnvoll gewesen, weil er die Gesellschaft weitergebracht und gleichsam für Dynamik gesorgt habe. "Überkommene Moralvorstellungen wurden durch den Tabubruch thematisiert." Im Fall Bohlen hingegen werde schlicht und ergreifend die Würde von Menschen verletzt.
Der Medienbeauftragte Bräuer sagte, neben dem Bemühen der Landesmedienanstalten und des Gesetzgebers sei der "öffentliche Diskurs über relevante Themen notwendig, die unserem Zusammenleben dienen und eine Kultur der Achtsamkeit fördern".
Wo eine Kultur der Achtsamkeit aus seiner Sicht besonders geboten ist, zählte Bräuer gleich im Anschluss auf und skizzierte gleichsam das Gruselkabinett der Jugendschützer: "Teenager suchen in Castingshows nach Berühmtheit. Mädchen richten ihr Schönheitsideal nach den Maßen von fast beängstigend schlanken Topmodels aus. Fernsehsender wollen dem Wunsch eines britischen Professors entsprechen, ihn beim Sterben zu filmen, und seinen Übergang von der einen in die andere Welt zu senden. Gewaltszenen im Internet, kinderpornografische Bilder auf dem Computer oder Vergewaltigungsszenen auf dem Handy sind die einen Tabubrüche der digitalen Zeit im Web 2.0." Beängstigend sei zudem, wie ahnungslos inzwischen persönliche Informationen und Ansichten im Netz preisgegeben würden.
Einen Einblick in diese Medienwelt und ihre Mechanismen lieferte der Tübinger Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen. Er erläuterte, worauf es ankommt, um in den Medien wahrgenommen zu werden: "Man muss Geschichten liefern und plakative Formulierungen." Die Schlüssel seien Vereinfachung, Identifikation und Sensationalisierung.
Stupidität gegen Publizität
Wie erfolgreich man damit sein kann, zeigte er am Beispiel Manuel Dörsam alias Dirk Mirow. In verschiedenen Kostümierungen hatte der Mann es mehrmals in die "Tagesthemen" der ARD geschafft. Mal demonstrierte Mirow im Pinocchiokostüm gegen Andrea Ypsilantis gebrochenes Wahlversprechen in Hessen, mal forderte er "Obama for Kanzler", dann wieder prangerte er als Mafioso verkleidet die Praktiken deutscher Banken an. Mirow habe "journalistische Bedürfnisse" nach plakativen Bildern quasi vorweggenommen und so große Aufmerksamkeit erzielt. Aufmerksamkeit sei in der heutigen (Medien-)Gesellschaft ein "Wert an sich". "Politiker tauschen Neuigkeiten und Intimes gegen Beachtung", erläuterte Pörksen und verwies unter anderem auf "Poolbilder" von Rudolf Scharping. "Man könnte auch sagen, Stupidität wird gegen Publizität getauscht."
Eine Wahrheitskontrolle sei aufgrund der Dichte der Informationen kaum noch möglich. Medienbilder würden nicht mehr mit der Realität verglichen, sondern mit anderen Medienbildern. "Man betet das Fragezeichen an", kritisierte Pörksen.
Ein falsches Medienbild von der Welt der Jugendlichen bemängelte auch Dagmar Hoffmann von der Universität Siegen. Von der "Generation Porno" werden intensiv berichtet – an der Wahrheit vorbei. "Eigentlich ist nichts so langweilig wie das Sexualleben der Jugend", sagte Hoffmann. Im Schnitt hätten Jugendliche mit 15,8 Jahren ihre ersten sexuellen Erfahrungen. Ein Wert, der im Grunde seit Jahren konstant sei. Und auch Studien, nach denen zwei Drittel der Jugendlichen angeben, sie hätten bereits Pornos geschaut, sieht sie kritisch. "Es ist einfach uncool zuzugeben, dass man noch keine Pornos gesehen hat." Zugleich nahm sie das Medium Fernsehen in Schutz. Sexualität nehme im Programm entgegen der landläufigen Meinung nur einen sehr geringen Raum ein. Am meisten nackte Haut finde man im Fernsehprogramm eigentlich in der Werbung. "Getreu dem Motto: Sex sells", erläuterte Hoffmann.
Normale sexuelle Entwicklung
"Es gibt keine Belege für eine massenhafte Abstumpfung oder Gewalt im sexuellen Bereich, die bei Jugendlichen durch Pornos hervorgerufen wird", sagte auch Konrad Weller, Psychologe von der Universität Merseburg. Pornos seien Teil einer normalen sexuellen Entwicklung von Jugendlichen und gehörten quasi zum Erwachsenwerden dazu.
Inzwischen wohl für sehr viele Jugendliche, wie eine aktuelle Studie der ZDF-Medienforschung zeigt, die auf der Tagung vorgestellt wurde (epd 32/10). 36 Prozent der Jungen und zehn Prozent der Mädchen von 16 bis 20 Jahren haben Pornos im Internet gesehen und sogar 13 Prozent der Jungen hatten schon Kontakt mit Kinderpornografie. Von einem 15-Jährigen, der ihm ein selbst gedrehtes Video mit Gruppensex auf dem Schulhof vorgespielt habe, berichtete der Journalist Wolfgang Büscher, Sprecher des Vereins "Arche". "In meiner Arbeit treffe ich auf Mütter, die Sex mit den Freunden ihrer 14-jährigen Töchter haben."
Auch die Wissenschaftlerin Petra Grimm von der Universität Stuttgart sieht den Konsum von Pornos eher kritisch und sprach von einem "Wirkungspotenzial", das jedoch schwer zu erforschen sei, da Jugendlichen Pornos eben nicht vorgespielt werden dürften. Dennoch sei es wahrscheinlich, dass das Körperbild Jugendlicher durch den Konsum von Pornos Schaden nehmen könne. Zudem würden falsche Rollenbilder vermittelt. Grimm forderte daher eine medienpädagogische Initiative. "Die Aufklärung findet bislang kaum statt, Lehrern fehlen Handreichungen, wie sie mit dem Thema Porno umgehen sollen."
"Mehr Geld für Medienpädagogen", lautete am Ende der Tagung dann auch eine Forderung aus dem Publikum. Um Jugendliche zu schützen, sei Bildung der Schlüssel. Jugendliche von gefährlichen Inhalten fernzuhalten, sei kaum noch möglich. Ziel müsse es aber sein, sie in die Lage zu versetzen, Inhalte einzuordnen. Da nickte auch der Mann mit dem grauen Pullover.
Wirtschaftliche Veranstaltungen
Verena Weigand von der Kommission für Jugendmedienschutz hielt dem entgegen, Medienpädagogik sei sinnvoll, Jugendmedienschutz sei dies aber nicht. Mit kritischen Inhalten würden Erwachsene Geld machen, sagte Weigand. Man müsse dafür sorgen, dass Jugendliche keinen Zugang zu solchen Inhalten bekämen, um sie zu schützen. "Man kann sich nicht aus der Verantwortung entziehen, indem man verbreitet, was man will und anschließend hier und da ein paar medienpädagogische Projekte anbietet", sagte sie und erhielt Applaus.
Die besten Verbündeten bei diesem Ansatz dürften – zumindest was das Fernsehen angeht – werbetreibende Unternehmen sein. Sowohl Klaus Schäfer (RTL II) als auch Philippe Gröschel von der VZ-Gruppe, zu der soziale Netzwerke wie SchülerVZ oder StudiVZ gehören, wiesen darauf hin, dass private Medienanbieter "wirtschaftliche Veranstaltungen" seien. "Unsere User kommen nur wieder, wenn sie sich wohlfühlen. Wenn sie sich bloßgestellt fühlen, kommen sie nicht wieder", erläuterte Gröschel. Jugendmedienschutz habe bei der VZ-Gruppe vor allem ökonomische Gründe. Und Schäfer verwies darauf, dass Sendungen, die ein zu schlechtes Image hätten, von Werbekunden gemieden würden. Dass es neben den Befindlichkeiten der Werbewirtschaft noch andere Gründe geben könnte, bestimmte Sendungen wie "Die Mädchengang" nicht zu machen oder dass es sinnvoll sein könnte, Jugendliche auf die Gefahren der eigenen Zurschaustellung im Netz aktiv hinzuweisen, kam beiden nicht in den Sinn.
Zu Recht kritisierte denn auch Bischof Gebhard Fürst, Vorsitzender der Publizistischen Kommission der Deutschen Bischofskonferenz: "Wenn der ökonomische Imperativ das gesamte Verhalten bestimmt, ist dies der Kritik auszusetzen." Anbieter sozialer Netzwerke müssten verpflichtet werden, über "Nebenwirkungen" zu informieren. Und Knebelverträge, die es Teilnehmern von Castingshows unmöglich machten, die Ausstrahlung ihrer Auftritte zu untersagen, gehörten verboten, forderte der Bischof. Tabus dürften nur gebrochen werden, wenn dies "menschendienlich" sei. Ein bedenkenswerter Vorschlag.
Dieser Artikel ist zuerst in der Ausgabe 33/2010 des Fachdienstes "epd medien" erschienen. Er basiert zudem auf dem Text "Ist die Generation Porno ein Mythos?" auf evangelisch.de
Henrik Schmitz ist Redakteur bei evangelisch.de und betreut die Ressorts Medien und Kultur.