Unsicher und vom Hunger getrieben streift der kleine Tiger durch hohes Gras. Irgendwo im Unterholz des nahen Dschungels sucht er sich ein Versteck. Dort wartet er - mit weit geöffneten Augen und ängstlichem Mauzen. Wann wird seine Mutter endlich von der Jagd zurückkehren? Plötzlich zerreißt ein Schuss die Stille. Und es ist klar, der Kleine wird sie nicht wiedersehen.
Mit solchen emotionalen Fernsehspots wird in Indien derzeit an ein vom Aussterben bedrohtes Nationalsymbol erinnert - den Königstiger (Panthera tigris tigris). Nach jüngsten Erhebungen der staatlichen Tigerschutzbehörde gibt es landesweit nur noch zwischen 1.165 und 1.657 Exemplare der gestreiften Raubkatzen. Der Mittelwert - die Zahl 1.411 - steht dabei im Zentrum der Medienkampagne "Save Our Tigers" (Rettet unsere Tiger), die ein Mobilfunkanbieter gemeinsam mit der Naturschutzorganisation WWF ins Leben gerufen hat.
"Die aktuellen Zahlen zeichnen erstmals ein realistisches Bild der Bedrohungslage", sagt der indische Biologe Joseph Vattakaven. "Das ist ein Schritt in die richtige Richtung, denn bislang haben die Behörden die Werte aufgebläht." So sollen im Jahr 2002 noch 3.500 Tiger in Indien gelebt haben - 1.500 davon in den 39 Nationalparks, 2.000 in freier Wildbahn. Nach heutigem Wissensstand gibt es jedoch außerhalb der Reservate schon seit Jahrzehnten keine Tiger mehr. Allerdings ist unklar, ob die geringere Tigerzahl einfach nur auf bessere Messmethoden zurückzuführen ist, heißt in der Roten Liste der bedrohten Arten.
Verlust des natürlichen Lebensraums
Klar ist: Es gibt kaum noch Tiger, nicht nur in Indien. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts streiften mehr als 40.000 Tiger über den indischen Subkontinent, in ganz Asien waren es Hunderttausende. Dass die Zahl so dramatisch zurückging, ist auf mehrere Faktoren zurückzuführen. Besonders einschneidend war und ist jedoch der Verlust des natürlichen Lebensraums der Tiere.
"Für Streifzüge, Nahrungssuche und Paarung benötigt ein Tiger zehn Quadratkilometer", sagt die Chefin des Zentrums für Wissenschaft und Umwelt (CSE) in Delhi, Sunita Narain. Doch wo Menschen siedelten, gebe es diesen Platz nicht. Daher blieben den Tieren nur Indiens Reservate von wenigen Zehntausend Quadratkilometern Größe. "Auch das erklärt, warum es nur noch wenige Tiger bei uns gibt."
Auch in Schutzräumen lauern Gefahren
[listbox:title=Mehr zu Tigern im Internet[Details zum Tiger beim World Wildlife Fund (WWF)##"Tiger" bei Wikipedia##Der Tiger als bedrohte Art auf der Roten Liste (englisch)##Homepage der Stiftung Artenschutz (allgemein)]]
Vor diesem Hintergrund scheint Experten auch das im Januar von "Tiger-Staaten" wie Indien, China und Russland vereinbarte Ziel vermessen, die Zahl der wildlebenden Raubkatzen in Asien innerhalb der nächsten zwölf Jahre auf 7.000 Tiere zu verdoppeln. Joseph Vattakaven sagt: "Wissenschaftstheoretisch scheint das möglich, aber angesichts der stetig wachsenden Bevölkerung ist es eine große Herausforderung."
Denn auch in den Schutzräumen lauern Gefahren. So fallen in den schlecht bewachten Reservaten Indiens Tiger immer wieder Wilderern zum Opfer. "Der illegale Handel mit Tigerteilen ist eine anhaltende Bedrohung", weiß Samir Sinha vom WWF. Zwar gebe es in Indien kaum Nachfrage. Im Nachbarland China allerdings blühe der Markt für Felle, Knochen und andere Körperteile der Königstiger. "Wir wissen, dass es enge Verbindungen zwischen indischen Wilderern und chinesischen Händlern gibt." Selbst in Birma, Laos und Thailand würden Tigerteile aus Indien angeboten.
Zusammenleben von Tigern und Menschen problematisch
Nach Ansicht von Umweltschützerin Narain wäre der Wilderei durch mehr Sicherheitskräften Einhalt zu gebieten. Ein weitaus größeres Problem sieht sie dagegen im Zusammenleben von Tigern und Menschen. "Bislang profitieren die Anwohner der Reservate nicht vom Naturschutz." Im Gegenteil: Immer wieder komme es zu grausamen Zwischenfällen. Erst vor wenigen Wochen wurden im Ranthambore Nationalpark im Bundesstaat Rajasthan zwei vergiftete Jungtiger entdeckt, 18 und 21 Monate alt. Die beiden hatten zuvor am Rande des Parks mehrere Ziegen gefressen, woraufhin sich die Dorfbewohner an ihnen rächten. Seit Anfang 2009 starben so landesweit etwa 80 Tiger.
Dieser Konflikt könne sich weiter verschärfen, wenn die Regierung im Rahmen der Schutzprogramme die Menschen vergesse, warnt Narain. Daher müssten Anwohner in einem ersten Schritt großzügige Entschädigungen für von Tigern getötete Nutztiere oder zerstörte Felder erhalten. Gleichzeitig müssten die meist weit abgelegenen Regionen um die Naturparks wirtschaftlich und touristisch entwickelt werden, damit die Menschen mit dem Schutz der Tiger ihren Lebensunterhalt verdienen können. Ansonsten, sagt Sunita Narain, führten auch noch so ambitionierte Medienkampagnen zu nichts.