Allein im Jahr 2008 erfasste die Polizei in Deutschland nach einer Statistik des Bundeskriminalamtes (BKA) rund 22.000 Fälle sexuellen Missbrauchs. In mehr als der Hälfte waren Kinder die Opfer. Die aktuellen Veröffentlichungen über Missbrauch in der Kirche rückten die Problematik wieder in den Brennpunkt. Debattiert wird das Thema besonders, seitdem viele der Opfer ihr Schweigen gebrochen haben. In den Verlagsprogrammen finden sich diverse Bücher, die sich aus aktuellem Anlass, aus persönlicher Erfahrung oder fiktiv mit Missbrauch auseinandersetzen.
"Verschwiegene Wunden" mit Vorwort von Anselm Grün
Wunibald Müller, Psychotherapeut und Theologe, forscht seit vielen Jahren auf dem Gebiet sexueller Missbrauch und Kirche. In seiner therapeutischen Arbeit hat der 1950 geborene Autor des Buches "Verschwiegene Wunden" immer wieder mit Klerikern zu tun, die sich an Opfern vergriffen haben. Sowohl spirituell bewandert als auch psychologisch ausgebildet ist Müller derzeit einer der wenigen kompetenten Gesprächspartner für die Medien. Sein Buch, zu dem der prominente Benediktiner Anselm Grün ein Vorwort beigesteuert hat, will vor allem eines: sexuellen Missbrauch in der katholischen Kirche erkennen und verhindern.
Angesichts der - so Müller - "schwersten Krise der katholischen Kirche in der jüngeren Geschichte" fragt er, woher sexueller Missbrauch in der Kirche kommt, wer die Täter sind und wo die Opfer stehen. Die unbedingte Solidarität mit den Opfern macht einen differenzierten Blick auf Ursachen der augenblicklichen Notsituation dringlich, meint Müller. Zu lange habe die Kirche sich Zeit gelassen.
Das Auswahlverfahren und die Ausbildung der Kandidaten für das Priesteramt und den Ordensstand sollten verbessert werden, fordert der Autor. Die Unfähigkeit sich gegenüber anderen zu öffnen, Probleme, echte Beziehungen zu Gleichaltrigen zu knüpfen und aufrechtzuerhalten, ein auffallend großes Desinteresse an Sexualität oder ein sexuelles Verhalten, das abgespalten von der eigenen Person stattfindet, seien nur einige Verhaltensweisen, die Verantwortliche hellhörig machen sollten. Einen direkten Zusammenhang zwischen Zölibat und sexuellem Missbrauch sieht Müller allerdings nicht. Wer pädophil veranlagt sei, den schütze weder der Zölibat noch die Ehe.
Anselm Grün nennt unter den wesentlichen Ursachen, die zum Missbrauch führen, auch fehlende Integration der Sexualität in den Lebensalltag der Menschen. Auch seien die Täter oft selbst Opfer gewesen. "Sie wurden als Kind missbraucht und geben nun diesen Missbrauch unbewusst weiter."
Aus der Opferperspektive: "Phönix Tochter"
Nicht aus der Distanz, sondern aus der Opferperspektive hat Isabelle Müller ihr Buch "Phönix Tochter" geschrieben. Die 1964 in Tours geborene Tochter einer Vietnamesin schildert den neun Jahre währenden Missbrauch durch den Vater, der bei ihr selbst Schuldgefühle geweckt hat. Sie überlebt den Missbrauch und den Dreck ihrer Kindheit: die Kleider von der Mülldeponie, die Armut, die Kälte. Nur kurz ahnt man, welche unauslöschbaren Spuren dies alles hinterlassen hat, als sie schildert, dass sie Perfektionistin und Workaholic geworden ist. Allerdings liegt Isabelle Müller Jammern und Klagen fern.
Auch in Romanen taucht das Motiv des Missbrauchs auf: Der Pariser Architekt und Philosoph Oliver Bouillere etwa beschreibt in "Retro" die Geschichte eines jungen Mannes, der von seinem Onkel missbraucht wurde. Die Erinnerung an diese Zeit gerät zum Alptraum, der in einem sadistischen Tableau eskaliert. Das Besondere an dem literarisch anspruchsvollen, düsteren Buch ist die Auflösung der Rollenverteilung zwischen Täter und Opfer, zwischen Fiktion und Realität.
"Under Control": Missbrauch an Patientin
Marc McNay schildert in seinem Roman "Under Control" den Missbrauch an einem abhängigen Patienten. Der Sozialtherapeut Nigel schwört Ehefrau Sarah bei romantischen Spaziergängen am Strand seine Liebe. Gleichzeitig organisiert er per SMS das nächste Treffen mit einer jungen Prostituierten, seiner Patientin, die er angeblich auf den richtigen Weg bringen will und dabei sexuell missbraucht. Die junge Frau lässt sich das gefallen - wie sollte sich die Verzweifelte auch gegen eine Welt von Männern wehren, die sie allesamt als Schweinehunde kennengelernt hat. Durchweg spannend geschrieben, erzeugt der Roman beim Leser Abwehr und Abscheu, zumal der "Held" nicht nur eine ihm anvertraute Person missbraucht, sondern dabei auch seine Frau zugrunde richtet.