"Meine Antwort fängt natürlich bei Jesus Christus an", sagt Nikolaj Thon, Generalsekretär der Orthodoxen Bischofskonferenz in Deutschland. "Die orthodoxe Kirche versteht sich als die Kirche, die Jesus Christus gegründet hat und die wir im Glaubensbekenntnis bekennen: die eine heilige, katholische, apostolische Kirche."
Die Orthodoxie ist von einem schier unerschütterlichen Selbstbewusstsein geprägt: "Die orthodoxe Kirche geht davon aus, dass sie diejenige ist, die die mit Christus in die Welt gekommene Botschaft seit 2000 Jahren authentisch lebt", sagt der Generalsekretär. Sie versteht sich als die ursprüngliche, die wahre Kirche, von der sich alle anderen Konfessionen, insbesondere die Kirchen der Reformation, immer weiter entfernt hätten. In der Bezeichnung "orthodox" stecken zwei Bedeutungen: Die eine verweist auf den rechten Lobpreis, die andere auf die rechte Lehre.
Absage an den Primat des Papstes
Die frühen Christen verstanden sich als die eine Gemeinschaft in der Nachfolge Christi und der Apostel. Die Zentren der frühen Christenheit lagen innerhalb des Römischen Reiches: es waren Rom sowie (die erst später so genannten) altkirchlichen Patriarchate Konstantinopel, Alexandria, Antiochia und Jerusalem, die sich alle auf die Gründung durch Apostel zurückführen. Im Streit um die Frage, wie Jesus Christus zu verstehen sei, ob als Gott oder als Mensch, kam es im fünften Jahrhundert zu einer Abspaltung der altkirchlichen Patriarchate.
Das Konzil von Chalzedon verneinte im Jahr 451 die Vorrangstellung des Papstes in Rom gegenüber anderen Bischöfen und bestand auf einer synodalen Kirchenverfassung, in der die Bischöfe einander gleichgestellt sein sollten. Diesen Konzilsbeschluss erkannte der römische Papst Leo jedoch nicht an.
Als Hauptstadt des Byzantinischen Reiches und Sitz des ökumenischen Patriarchen gewann Konstantinopel bald an Gewicht gegenüber Rom. In den alten christlichen Missionsgebieten des Orients hingegen übernahm der Islam die religiöse und politische Führungsrolle.
Sind Gott und Christus gleichrangig?
Zwischen den christlichen Zentren setzte im Verlauf der Jahrhunderte eine Entfremdung ein, die machtpolitische, kulturelle und religiöse Ursachen hatte. Während die Gelehrten zuvor auch in Rom des Griechischen mächtig waren, entwickelte sich dort das Lateinische zur tonangebenden Sprache. Griechen und Römer verstanden einander nicht mehr.
Zum offenen Bruch zwischen West- und Ostkirche kam es im Jahr 1054. Es ging um einen Streit über das richtige Gottesverständnis, der bis heute nicht ausgeräumt ist. Die Westkirche hatte dem gemeinsamen, auf dem ökumenischen Konzil von Nicäa akzeptierten Glaubensbekenntnis nachträglich ein "filioque" hinzugefügt. Nun sollte es heißen: "Wir glauben an den Heiligen Geist, der Herr ist und lebendig macht, der aus dem Vater und dem Sohn hervorgeht."
Die Ostkirche betont, der Vater sei der einzige Ursprung innerhalb der Dreifaltigkeit. Die Westkirche hebt die Gleichrangigkeit von Vater und Sohn hervor. Betont die Ostkirche die Bedeutung der drei Personen innerhalb der Trinität, so spielt der Heilige Geist in der Theologie der Westkirche eine untergeordnete Rolle.
Russland als Zentrum der Orthodoxie
1204 besetzten und verwüsteten Kreuzzügler auf dem Weg ins Heilige Land Konstantinopel, das Zentrum der Orthodoxie. Das Vertrauen zwischen Ost- und Westkirche war für lange Zeit dahin. Mitte des 15. Jahrhunderts gewannen die Osmanen die Herrschaft über Konstantinopel und die Balkanländer. Nach dem Fall Konstantinopels entwickelte sich Russland zum neuen Zentrum der Orthodoxie. Von hier aus wurden viele Länder Osteuropas missioniert, in neu entstandenen Nationalstaaten wie Serbien, Bulgarien, Rumänien und Finnland entstanden orthodoxe Landeskirchen.
In den Jahrzehnten des Kommunismus erlebten die Christen in der Sowjetunion furchtbare Zeiten der Verfolgung. Millionen von Osteuropäern emigrierten wegen der Diktatur, aber auch aus wirtschaftlicher Not nach Westeuropa und in die USA. Durch die Migration und eine aktive Missionsarbeit gibt es heute auf allen Kontinenten orthodoxe Gemeinschaften. Auch die altorientalischen Kirchen verloren durch Emigration und Übertritte zum Islam zahlreiche Mitglieder. Die assyrisch-apostolische Kirche verlegte ihren Hauptsitz nach Chicago.
Formen der Spiritualität
Die orthodoxe Kirche versteht sich als eine Gott lobende, betende, feiernde und fastende Gemeinschaft, weniger als lehrende und belehrende. "Ich bin nicht als Pädagoge hierher gekommen ..." Vielmehr sei er beauftragt, Jesus Christus "gegenwärtig zu machen durch die Sakramente seiner Kirche und durch das gemeinsame Gebet und auch durch das Beispiel meines eigenen Lebens", so beschreibt Metropolit Seraphim von der rumänisch-orthodoxen Kirche in Deutschland seinen Auftrag.
"Kirche symbolisiert das Himmelreich, sie ist keine arme Wanderpredigerkirche", meint Nikolaj Thon, der Generalsekretär der orthodoxen Bischofskonferenz in Deutschland. Die Gläubigen sollten spüren: "Heute ist der Anfang unseres Heils. Es ist in dieser Welt bereits angebrochen."
Das Herzstück der Kirche ist die göttliche Liturgie, die Eucharistiefeier. Sie wird als "Mysterion", als Geheimnis, bezeichnet. Damit wird "das Ereignishafte, das Feierliche, das von der Wirkung Gottes und durch die Gnade Gottes (...) erreichte Heil" beschrieben, so der Theologe Grigorios Larentzakis. Von der Vernunft sei es nicht restlos zu erfassen.
Synodale Ordnung
In ihrer Verfassung wahren die orthodoxen Kirchen eine synodale Ordnung. Auch die Patriarchen von autokephalen (selbstständigen) Kirchen sind nur Primus inter pares (Erster unter Gleichen). Das ökumenische Patriarchat der Orthodoxie befindet sich noch immer im früheren Konstantinopel, dem heutigen Istanbul. Durch die Christenverfolgungen umfasst es heute nur noch einige tausend Mitglieder. Das Oberhaupt trägt den stolzen Titel: Bartholomaios, Erzbischof von Konstantinopel, dem Neuen Rom, und Ökumenischer Patriarch.
Orthodoxe Priester und Diakone der orthodoxen Kirchen dürfen verheiratet sein, die Bischöfe hingegen entstammen in der Regel dem Mönchtum. Über lange Zeit prägten Nationalkirchen das Bild der Orthodoxie, Kirche und Nation gingen vielfach ein enges Bündnis ein. Eine orthodoxe Gesamtsynode suchte dieses Bild 1872 zu korrigieren - sie verurteilte Nationalismus als Irrlehre.
Auf dem Weg zum Konzil
Die IV. präkonziliare panorthodoxe Konferenz hat 2009 beschlossen, dass sich in der orthodoxen Diaspora regionale Bischofskonferenzen organisieren sollten. Daraufhin gründeten kürzlich die verschiedenen orthodoxen Diözesen - griechische, russische, rumänische, bulgarische, georgische und ukrainische - die orthodoxe Bischofskonferenz in Deutschland. Fernziel: ein ökumenisches Konzil aller christlichen Konfessionsfamilien. Das hat es seit der Spaltung in Ost- und Westkirche nicht gegeben.
Hedwig Gafga arbeitet als freie Journalistin in Hamburg.