Die Weltreise beginnt am Hauptbahnhof, in der S-Bahn nach Süden, und endet an der zweiten Haltestelle. Vom S-Bahnhof Veddel führt der Weg an der Ballinstadt vorbei, direkt in einen Tunnel aus Blättern und Bäumen. Am Ende des Waldes rauscht ein Bus der Linie 154 eine Straße hinab, vorbei an einem jungen, bärtigen Mann, der sich in einer Sprache unterhält, die nach Orient klingt – Romanes, die Sprache der Sinti.
Heinz Weiss zündet sich eine Zigarette an und steigt in seinen roten Audi. Heinz Weiss – so steht es in seinem deutschen Pass. Freunde und Familie rufen ihn Kako, mit einem weichen K am Anfang, "Gako!" Der 27-Jährige winkt einem Jugendlichen zu, als er im Auto die Straße hinab zur Elbe fährt, an die Ufermauer, auf der er so gerne alleine steht und Saxofon spielt. Auf der anderen Seite des Flusses, hinter den Hafenanlagen, liegt das Schanzenviertel. "Ich bin unheimlich gerne da", sagt er. Dort wohnen könnte er nicht. "Das ist zu weit weg von der Familie."
Das Schimpfwort ist keines mehr
Als Kako geboren wurde, lebten seine Vorfahren noch in Wohnwagen. Heute steht dort eine Tankstelle. Kako biegt in einen Ring ab, an dem Einfamilienhäuser mit roten Klinkerfassaden stehen. Kinder spielen auf der Straße, Kako fährt im Schritttempo vorbei. 45 Familien leben seit 1982 in den Häusern, die meisten sind mit Kako verwandt, fast alle tragen den Nachnamen Weiss. Mit 500 Mitgliedern bilden sie die größte Sinti-Familie Deutschlands, geführt vom 81-jährigen Emil Weiss, dem Oberhaupt.
"Wir sind Zigeuner", sagt er in einer Fernseh-Dokumentation, die in der ARD lief. Der Begriff, der wohl auf das griechische atsinganoi zurückgeht und im 9. Jahrhundert eine Glaubensgemeinschaft bezeichnete, wurde über Jahrhunderte hinweg mit Abwertung belegt. Emil Weiss möchte das Wort wieder als neutrale Bezeichnung zurückgewinnen.
"Wir leben hier wie in einem Dorf", sagt der junge Kako, Tikno Kako. Er wurde nach seinem Patenonkel benannt, der den Namen wiederum von seinem Patenonkel, dem alten Kako, Baro Kako, erhielt. Drei Generationen einer Familie, die seit 600 Jahren mitten in Hamburg nach ihren eigenen Gesetzen lebt und kaum mit den Bewohnern auf der anderen Seite der Elbe in Berührung käme – wäre da nicht eine Leidenschaft, die sie über alle Grenzen hinwegträgt und gerade eine neue Stimme findet; durch ein 13-jähriges Mädchen, das so heißt wie alles, was die Familie nach innen und außen verbindet: Melody.
Zigeunerin oder Deutsche?
Melody sitzt in Jeans auf einem großen Sessel. "Vor einem Auftritt bin ich sehr nervös", sagt sie im Wohnzimmer ihrer Familie. Am 6. September ist es so weit. Dann singt sie mit dem Café Royal Salonorchester, und vier Generationen der Familie Weiss geben in der Harburger Dreifaltigkeitskirche einen "Gala-Abend der Sinti-Musik". Mit sechs Jahren bekam sie den ersten Gesangsunterricht. Inzwischen nimmt sie wöchentlich Stunden bei Johanna Zernova an der Stage School gegenüber der Laeiszhalle und übt regelmäßig mit ihrem Cousin, dem jungen Kako, einem begnadeten Saxofonspieler.
Ihr Zimmer im Keller ist eine Wolke in Rosa, ihrer Lieblingsfarbe. Auf der Kommode steht ein Bilderrahmen mit dem Foto ihres Idols, Sängerin Beyoncé: "Mein Ein und Alles", sagt Melody. Sie heißt tatsächlich so, so wurde sie getauft. Eine junge Deutsche. Fühlt sie sich auch so? Melody schüttelt den Kopf: "Ich fühle mich als Zigeunerin."
Musik statt Gelegenheitsjobs
Wenn sie ihre beste Freundin besucht, ein deutsches Mädchen, das nicht aus der Siedlung kommt, ist dort vieles anders. Nicht so familiär, nicht so geborgen, nicht so klar geregelt. Bald kann Melody keine Jeanshosen mehr anziehen. Wenn eine Sintiza zur Frau wird, darf sie nur noch Röcke tragen. "Darauf habe ich keine Lust", sagt sie und verzieht lachend das Gesicht. Aber es ist Gesetz.
Zwei Jahre noch, dann will sie ihren Hauptschulabschluss machen. Damit ist sie eine Ausnahme: 90 Prozent der Sinti-Kinder haben keinen Schulabschluss. Ihr Cousin Kako auch nicht: "Ich wurde auf eine Sonderschule geschickt. Da verblödet man. Mit 13, 14 Jahren bin ich nicht mehr hin." Mit seinem Großvater zog Kako los, klingelte an Türen und bot Scherenschliffe an. Heute ist er aus ganzem Herzen Musiker.
Von den Nazis verfolgt
Sonntagabend in der Siedlung. Männer, Frauen und Kinder kommen aus einem roten Holzhaus, der Kirche für die Sinti-Gemeinde. "Hütte der Geborgenheit" steht an der Tür. Als 1962 die große Flut nach Hamburg kam, verschonte sie die Wohnwagen der Sinti. Aus Dank sind fast alle der Familie Weiss zum christlichen Glauben übergetreten.
Baro Kako, der alte Kako, trägt sein Akkordeon, auf dem er im Gottesdienst spielte, in sein Haus. Sein Geld verdient er als Kaufmann, der oft mit seinem Auto zu seinen Kunden unterwegs ist. "Seit Generationen und Generationen sind wir unterwegs. Das liegt uns im Blut. Erst hier, in diesen Häusern, werden wir sesshaft."
Es klingelt an der Tür, Besuch. Baro Kako muss ihm die Ehre erweisen, ihn begrüßen, das ist Pflicht – und Lebensversicherung. "Wenn ich nach München fahre", sagt er, als er wieder zurückkommt, "und ich telefoniere, weil ich Hilfe brauche, sind sofort Menschen für mich da." 20 von Baro Kakos näheren Verwandten wurden im Nationalsozialismus umgebracht – Väter, Mütter, Kinder. Insgesamt wurden in dieser Zeit schätzungsweise 500.000 Sinti und Roma getötet. "Wir sind verletzt und wachsam", sagt Baro Kako. So wurde das Dorf, in dem die Familie Weiss lebt, eine Insel der Geborgenheit.
Panikattacken
Wenn die Kinder aus der Siedlung hinaus in die Schule müssen, ist das schmerzhaft. Viele junge Sinti reagieren mit Panikattacken und verweigern den Unterricht. "Die Kinder wachsen bei uns so geschützt auf, es fällt ihnen schwer", sagt Baro Kako. Die Eltern versuchen sanft, ihren Kinder zu helfen. Für Deutsche außerhalb der Insel ist das oft nicht nachvollziehbar. Sie verweisen auf Schulpflicht und Gesetze. Baro Kako schüttelt den Kopf: "Wir wollen keinen Zwang von einer Bürokratie, die uns sagt, was wir zu tun haben."
Die Sinti möchten das auf ihre Weise regeln. So begleiten sie ihre Kinder zum Unterricht. Eine Sinti-Initiative bietet Nachhilfe an und hilft Jugendlichen beim nachträglichen Schulabschluss. "Die Deutschen lernen seit Jahrhunderten – seit Humboldt – in ihrem Schulsystem." Der 60-Jährige hebt die Arme: "Bei uns gehöre ich zur ersten Generation, die zur Schule ging." Er schaut aus dem Fenster. "Wir brauchen Zeit."
Ihr und Wir, zwischen Sehnsucht nach Freiheit und Anpassungsdruck: Daran reiben sich beide Welten in Hamburg immer wieder. "Lasst uns spielen", ruft Clemens Rating. Er ist ein Gadjo, was auf Romanes Deutscher heißt. Doch der Gitarrist ist seit Jahren mit den Sinti verbunden und wurde so zum Manager und Ruhepol des Café Royal Salonorchesters.
"Du kommst zu mir"
Es ist Donnerstag, Probentag. In Ratings Haus in Othmarschen, fernab von der Siedlung und ihren Ablenkungen, üben die Musiker für das Konzert auf Ledercouch und Stühlen. Baro Kako hat sein Akkordeon ausgepackt, Tikno Kako sein Saxofon. Zusammen mit den Geigern Bummel und Pello und Bassist Axel Burkhardt stimmen sie "J'attendrai" an. Melody steht vor ihnen und lauscht. Die 13-Jährige kennt das Lied nicht. "Hör es dir einfach nur an", sagt Bummel und spielt ihr die Melodie vor. So hat Melody alle Lieder gelernt. So lernten alle Sinti ihre Instrumente. Notenblätter gibt es hier nicht, nur die Rufe von Baro Kako – "Jetzt a-Moll! Und d-Moll!"
Dann ist es still. Melody stimmt ein Lied auf Romanes an. "Tu we paschmande", Du kommst zu mir. Dunkel und klar singt sie, und auf einmal haben die Dinge kein Gewicht mehr. Ihre Stimme öffnet den Raum und lässt die Zeit durch, 600 Jahre Leben Sinti: Tu we paschmande. Der junge Kako steigt auf die Ufermauer und schaut über die Elbe, wie immer, wenn er alleine sein will. "Ich beneide und betrauere euch", sagt er. "Wir haben mehr Geborgenheit. Ihr habt mehr Freiheit." Tu we paschmande.
Joachim Wehnelt ist freier Journalist in Hamburg. Sein Porträt der Familie Weiss erschien erstmals im Hamburger Straßenmagazin "Hinz & Kunzt". Die Reportage-Fotos stammen von dem Hamburger Fotografen Mauricio Bustamante.