Ist es wichtig, von wem ein Spenderorgan kommt? Oder wem es eingepflanzt wird? Und welcher Religion derjenige angehört? Es ist der 5. November 2005, ein Samstag, und fortan sind diese Fragen Teil von Ismael Khatibs Leben: Sein Sohn Ahmed, zwölf Jahre, wird eingeliefert in die Kinderintensivstation des
Rambam-Klinikums in Haifa, Israel. Er hat Schussverletzungen am Kopf und an der Brust, Maschinen halten seinen Körper am Leben. "Die Ärzte sagten, seine Überlebenschancen seien gering", erzählt Ismael
Khatib, ein Palästinenser, hager der Körper und ernst der Blick. Nur mit viel Glück könne sein Sohn es schaffen.
Die Khatibs leben in Jenin, einem palästinensischen Flüchtlingslager im Westjordanland. An jenem Tag fahnden israelische Soldaten hier nach Attentätern. Ahmed spielt mit seinen Freunden an der "Pferdekreuzung", das Spiel geht so: Die Jungen bilden verschiedene Gruppen, palästinensische Kämpfer, ausländische Friedensaktivisten und Besatzer. Wer getroffen wird, stellt sich tot, die Stärkeren gewinnen.
Im Spiel gewinnen die Palästinenser.
Ein Gewehr aus Plastik
In der Realität ist es anders: Ahmed trägt ein Gewehr aus Plastik in der Hand, die israelischen Soldaten halten das Spielzeug für eine Kalaschnikow und schießen. "Wir hatten den Befehl, jeden zu erschießen, der eine Waffe trägt", sagt später ein israelischer Oberstleutnant, der seinen Namen nicht nennen will.
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Ahmeds Zustand ist aussichtslos, sein Herz schlägt, aber sein Hirn ist tot. – Eine Geschichte wie hundert andere, und doch ist sie anders. Ob er die Organe des Jungen an israelische Kinder spenden würde, fragt man den Vater im Krankenhaus. Wie bitte?! Ismael Khatib bleibt ruhig, dabei müsste er zornig sein in seiner Trauer und voller Rachegefühle. Er bespricht sich mit Ablah, seiner Frau, sie sagt Ja. Er konsultiert Zakaria Zbeidi, den Chef der Al-Aksa-Brigaden in Jenin: "Aus meiner Sicht kann es kein Problem sein, ein Menschenleben zu retten", sagt der. Auch der Mufti hat keine Einwände: "Nach dem Tod ist es erlaubt, Organe zu spenden. Egal an wen."
Organe für sechs Israelis
Ismael, Vater von fünf Kindern und im schlimmsten Moment seines Lebens, sagt: Organspende ja, aber Ahmeds Herz – nein, das geht nicht. Kurz darauf korrigiert er sich: "Wenn jemand das Herz braucht, kann er es haben." So spenden die Eltern Nieren, Leber und Lunge ihres Jungen – und das Herz. Sechs Israelis erhalten ein lebensrettendes Organ, unter ihnen das Drusenmädchen Samah, der Beduinenjunge Mohammed, und Menuha Rivka, Tochter orthodoxer Juden.
Dies ist der erste Teil des Dokumentarfilms, mal eilig mit wackeliger Handkamera gefilmt, mal mit Ausschnitten aus dem israelischen Fernsehen, mal erzählt im Rückblick. Der zweite Teil begleitet Ismael Khatib auf einer Reise durch Israel, um drei der geretteten Kinder zu besuchen. Die Regisseure Marcus Vetter, ein Deutscher, und Lior Geller, ein Israeli, sind dabei, besuchten seine Familie in Jenin, sprachen mit Verwandten, dem Krankenpfleger, den Eltern der Kinder. Wie verkraften es die Khatibs, dass andere Kinder leben, weil ihr Sohn tot ist? Dass sie nach außen als Botschafter des Friedens gelten, aber von manchen Landsleuten als Verräter geschmäht werden?
Zahlreiche Auszeichnungen
Im vergangenen Jahr war "Das Herz von Jenin" in den deutschen Kinos zu sehen. Der Film hat viele Preise gewonnen, den Cinema for Peace Award, den ersten Preis des Valladolid International Film Festival, den DEFA-Förderpreis auf dem DOK Leipzig Festival. Die Evangelische Filmjury nominierte "Das Herz von Jenin" als Film des Monats – und nun haben Marcus Vetter und Leon Geller für ihren Streifen auch die begehrte "Lola" gewonnen, den Deutschen Fernsehpreis in der Kategorie bester Dokumentarfilm.
Der Film ist ein Kleinod der Hoffnung. Es ist rührend, wie Ismael Khatib den kleinen Mohammed umarmt, der eine von Ahmeds Nieren bekam. Wie Khatib Menuha Rivka – sie erhielt die zweite Niere – auf die Wange küsst. Wie er Samah drückt, in deren Brust Ahmeds Herz schlägt. Sein Junge lebe in den anderen weiter, sagt Ismael, und dass diese Kinder damit zu einem Teil seines eigenen Lebens
geworden seien.
Als junger Mann hat Khatib mit Molotowcocktails und Steinen gegen israelische Soldaten gekämpft, er saß deswegen im Gefängnis, monatelang. Dann entschied er sich gegen den bewaffneten Kampf. Er machte ein Kleidergeschäft auf – doch das musste er mit der zweiten Intifada schließen. Er gründete eine Autowerkstatt; die wurde niedergerissen, die zweite im Nachbarort konnte er wegen Straßensperren nicht mehr erreichen.
"Wir leisten Widerstand durch Bildung"
Heute leitet er das von Italienern geförderte Cuneo Friedenszentrum in Jenin, und er ist überzeugt: Der Hauptgrund, warum sein Sohn sterben musste, ist, dass es in Jenin kaum sichere Orte gibt, wo Kinder spielen können. "Wir nehmen so viele Kinder auf wie möglich, auch Ahmeds Freunde – damit sie hier ihre Freizeit verbringen. Wir leisten Widerstand durch Bildung."
Der Film zeigt aber auch die andere Seite dieses alten Konflikts: Wie schwer es ist, Frieden zu schaffen, wie verfahren die Situation ist, wie tief Vorurteile und Hass sitzen. Etwa wenn Ismael Khatib demütigende Prozeduren am Grenzübergang nach Israel über sich ergehen lassen muss – und dann doch nicht einreisen darf. Wenn die Trauergemeinde Ahmeds leere Hülle wie eine Trophäe durch Jenin trägt und ruft: "Allah ist groß. Hebt den Märtyrer hoch und lasst die Welt sehen, wie er in seinem Blut liegt." – "Jeder Tote wird mit Hundert gerächt. Allah ist groß."
Eine Entschuldigung ist fällig
Wenn Menuhas Vater noch während der Transplantation auf die Frage israelischer Fernsehjournalisten sagt, es sei kein so schönes Gefühl, dass das rettende Organ nicht von einem Juden komme. Wenn er sich später für diesen Satz entschuldigt, aber dennoch nicht will, dass seine Kinder palästinensische Freunde haben, "wegen des schlechten Einflusses".
So ist denn auch die beklemmendste Szene des Films der Besuch bei Menuhas Eltern: Ein karges Wohnzimmer, eine seltsam stille Frau Levinson, die Kaffee aus der Küche bringt, eine ängstliche Menuha Rivka (auf dem Foto links unten), die dem fremden Mann kaum die Hand geben will, und ihr Vater, hilflos in Gesten und Worten; Ismael Khatib und sein Bruder, die steif auf dem Sofa sitzen, den angebotenen Zucker zum Kaffee ausschlagen und am liebsten unsichtbar wären. Aber: Ist einer, der dem Feind Leben schenkt, noch ein Feind?
Zu einem Treffen durchgerungen
"Wie schade, dass wir uns nicht früher getroffen haben", sagt Jaakov Levinson zum Abschied – vielleicht eine Floskel, vielleicht hat er doch eine Veränderung durchgemacht. Beide Seiten hatten sich zu diesem Treffen durchringen müssen; Ismael Khatib, die Augenringe tiefer noch als sonst, hätte am liebsten nur das Mädchen getroffen, ohne Eltern, aber das geht schließlich nicht. Marcus Vetter, der Regisseur, kam nicht mit in die Wohnung der Levinsons hinein, er verfolgte die Geschehnisse draußen über eine Kamerabrille – zu fragil, zu emotional war die Situation.
Er habe, sagt Ismael Khatib später, mit der Organspende der israelischen Gesellschaft ziemlich zu schaffen gemacht: "Es wäre ihnen lieber gewesen, ein Palästinenser hätte ein Kind getötet, als eines zu
retten." Ob es möglich sei, dass einer seiner Söhne den toten Bruder eines Tages rächen würde, wird Khatib gefragt. "Solange es die Besatzung gibt, ist alles möglich", antwortet er. Doch: "Man kann seinen Bruder auch anders rächen. Indem man die Besatzungsmacht vor aller Welt bloßstellt. Man kann es mit Musik machen oder mit Malerei. Man muss dafür keinen Soldaten töten."
In der letzten Filmsequenz sitzt die kleine Menuha Rivka Levinson fröhlich auf einer Schaukel – wie eine Hoffnung auf Versöhnung. Irgendwann wird sie fragen, von wem sie ihre Niere hat. Ein großer kleiner Film!
Die Gratulation der Evangelischen Kirche in Deutschland für die Produktionsfirma Eikon lesen Sie hier.
Dieser Beitrag erschien erstmals im evangelischen Monatsmagazin "chrismon" (Heft 5/2009).