Schlöndorff: "Internate sind Schulen für das Leben"
Für den Filmregisseur und Oscar-Preisträger Volker Schlöndorff ("Die Blechtrommel") sind Internate "trotz allem auch Schulen für das Leben, so oder so".
27.04.2010
Von Wilfried Mommert

Die Internate seien oft sogar eine wahre Hilfe für den "Schritt ins wirkliche Leben, bei mir war das jedenfalls so, ich habe sehr von dieser Zeit profitiert". Und er habe "dadurch erst verstanden, was dann später beim Militär oder überhaupt in Männerbündnissen und -gesellschaften passiert".

Unkultur des Wegsehens in dieser Gesellschaft

Schlöndorff weiß wovon er spricht. Der heute 71-Jährige besuchte als Jugendlicher ein Jesuiten-Internat in der Bretagne und drehte wenig später 1966 noch als Twen seine Robert-Musil-Verfilmung "Der junge Törless" (mit dem jungen - und bildhübschen - Mathieu Carrière) über sadistische Quälereien in einem Internat. Bei Musils Roman "Die Verwirrungen des Zöglings Törleß" von 1906 gehe es auch um die "Sinnlichkeit" hinter Internatsmauern. Eine "Negierung der sexuellen Natur" junger Menschen könne sich vehement entladen, betont der Regisseur.

Von dämonischen "Jugendertüchtigungen" in einer strengen französischen Klosterschule und danach in einem Nazi-Elite-Internat erzählte später sein Film "Der Unhold" (1996) nach dem gespenstischen Roman "Der Erlkönig" des Franzosen Michel Tournier mit dem "schwarzen Ritter", in dem sich ein erwachsener, aber entwicklungsgestörter Mann zu Kindern als "Seelenverwandte" hingezogen fühlt ("...jetzt fasst er mich an!" zitiert der Film an einer Stelle Goethes berühmte "Erlkönig"-Ballade).

In der jetzigen Missbrauchsdebatte wird nach Ansicht Schlöndorffs "sehr viel in einen Topf geworfen", wie er in einem Gespräch mit der Nachrichtenagentur dpa betont. Übergriffe und wirkliche Verfehlungen Erwachsener seien natürlich zu verurteilen und zu verfolgen. "Das ist aber keine besondere Angelegenheit der katholischen Kirche oder von Internatsschulen, das geschieht auch in Hinterhöfen in Berlin-Hellersdorf oder sonstwo und vor allem leider auch immer noch zumeist in den Familien. Natürlich muss man die Kirche auch an ihrem eigenen Anspruch messen, aber man muss die Kirche auch im Dorf lassen." Die jetzt bekannt gewordenen Missbrauchsfälle offenbarten aber auch wieder einmal die Unkultur des Wegsehens in dieser Gesellschaft, "die sonst so viel auf sich hält".

"Die waren hinter meinem Geist her, nicht hinter meinem Körper"

Er sei zwar nie selbst Betroffener von Übergriffen gewesen und habe in seiner Internatszeit auch nie etwas darüber gehört, aber natürlich sei auch er unter Jugendlichen nicht naiv aufgewachsen und kannte auch die "Knabenspiele", aber er habe das für das normale "coming of age", das Erwachsenwerden, gehalten. "Mir ist das nie als etwas Böses vorgekommen." Und im Internat habe er überhaupt erst gemerkt, "was ein wirklicher Pädagoge ist, der sich für uns einsetzt und ein leidenschaftliches Interesse an seinem Beruf hat im besten Sinne". Diese Leidenschaft war nicht sinnlich, "die waren hinter meinem Geist her und nicht hinter meinem Körper".

An dem jetzt so heftig umstrittenen Wort vom "pädagogischen Eros" sei auch etwas Positives, meint Schlöndorff. "Ohne die Begeisterung, ja auch Leidenschaft im geistigen Sinne, die ich von meinen Priestern erfahren habe, wäre ich in dieser Schulzeit nicht so entscheidend positiv beeinflusst worden." Dazu gehörte auch der Rat eines Jesuitenpaters: "Man muss das tun, woran man glaubt, und zwar ohne Gegenleistung. Dann ist man glücklich." Und beim Beruf an Berufung, nicht an Geld denken. Diese Art der Leidenschaft zur Erziehung eines jungen, "unfertigen" Menschen habe auch der französische Regisseur François Truffaut (1932-1984) in seinem Film "Der Wolfsjunge" 1970 gezeigt. Auch da sehe man, dass eine Erziehung "immer auch eine Art Paarbeziehung ist", in der man natürlich mit der Reife des Erwachsenen rechnen muss, dies nicht zu missbrauchen.

"Mikrokosmos mit eigenen Anführern und Opfern"

In seinem eigenen Film "Der junge Törless" schildere er "ein böses Beispiel von Unterdrückung unter Jugendlichen ohne Intervention von Erwachsenen mit ihren eigenen Machtspielen untereinander", sagt Schlöndorff. Das sei besonders erschreckend gewesen, weil er bei der Besetzung der Rollen auch auf Schulhöfen gewesen sei, wo ihm Schüler für die "Opferrolle" in dem Internatsfilm "ihr eigenes "Opfer" angeschleppt und gesagt haben, sie hätten genau so einen Jungen in der Schule, der gemobbt werde, wie man heute sagt". Und der Junge sei sogar besonders erpicht darauf gewesen, in dem Film mitzuspielen. Marian Seidowsky habe danach sogar in Fassbinder-Filmen wie "Götter der Pest" und "Händler der vier Jahreszeiten" als "Bösewicht" Karriere gemacht.

Jedes Internat sei auch "ein Mikrokosmos mit eigenen Anführern und Opfern und auch Machtkämpfen - wie im späteren Leben, das wird für viele eine prägende Erfahrung". Die Jugendlichen würden sich oft untereinander besser erziehen als viele Erwachsene, die dabei versagten. So lernten die Kinder dort einen offenen Umgang miteinander und sprächen auch über ihre sexuellen Probleme und lernten, ihre Sexualität zu akzeptieren, weil sie merkten, dass sie damit nicht alleine seien. Der Sinn der Internate sei ja auch nicht "Kinder wegzuschließen". Er habe noch nie geglaubt, "dass die Behütung auf Dauer ein großer Vorteil ist - irgendwann muss man doch raus aus dem Reservat in die freie Natur, laufen lernen, auch wenn man zwischendurch ins Stolpern kommt".

dpa