Wenn Kinder Kinder zum Sex zwingen
Die gesellschaftliche Aufmerksamkeit für sexuelle Gewalt steigt auch im Licht der jüngst bekannt gewordenen Fälle. Das könnte auch ein Grund sein, warum in der Statistik immer öfter Fälle sexueller Gewalt von Kindern an Kindern auftauchen. Es ist ein Vergehen, über das in Deutschland noch ziemlich wenig bekannt ist.
26.04.2010
Von Isabel Fannrich-Lautenschläger

Seit zwei Jahren steht die Familie Bergheim (Name geändert) unter Druck. Der fünfjährige Sohn Frederik kam morgens zu seinen Eltern ins Bett und wollte wissen: "Was ist eigentlich Sex?" Die Eltern wurden hellhörig. Frederik erzählte, dass der achtjährige Nachbarsjunge ihn und seinen Zwillingsbruder in eine leerstehende Fabrik gelockt hatte. "Er hätte ihnen dort gezeigt, was Sex ist", erinnert sich die Mutter Sandra Bergheim. Was dort passiert war, erfuhren die Eltern erst Wochen später.

Mehr Anzeigen oder tatsächlich mehr Fälle?

Die Fälle sexueller Übergriffe von Kindern unter 14 gegen andere Kinder scheinen zuzunehmen. Die polizeiliche Kriminalstatistik verzeichnet einen Anstieg der Tatverdächtigen. Im Jahr 1996 wurden zum Beispiel in Nordrhein-Westfalen 132 Kinder eines sexuellen Übergriffes verdächtigt. Zwölf Jahre später waren es mit 239 Kindern fast doppelt so viele.

"Diese Zahlen sind schwierig zu interpretieren", warnt der Psychologe Andrej König vom Institut für Forensische Psychiatrie der Universität Duisburg Essen: "Sie spiegeln das Anzeigeverhalten der Bevölkerung wider." Möglicherweise sei nicht die Zahl der Fälle gestiegen, sondern die gesellschaftliche Sensibilität für die Problematik gewachsen.

Nur wenig ist in Deutschland über strafunmündige Kinder bekannt, die sich an anderen Kindern vergehen. Die Uni Duisburg Essen hat 56 Jungen und fünf Mädchen, die sexuelle Gewalt ausgeübt hatten, untersucht und sie mit aggressiv auffälligen sowie unauffälligen Kindern verglichen. König machte dabei die Beobachtung, dass viele der sexuell Übergriffigen depressive, ängstliche und selbstunsichere Symptome zeigen. Die Hälfte der untersuchten Jungen hat selbst massive körperliche, psychische oder sexuelle Gewalt erlebt, berichtet er. Die Untersuchung zeigte, dass dreiviertel der untersuchten jungen "Täter" ihr Opfer oral, vaginal oder anal penetrierten, berichtet König.

Was ist unter 14 Jahren normal, was gilt als auffällig?

Was als sexueller Übergriff im Kindesalter gilt, ist nicht klar definiert. "Wir wissen relativ wenig darüber, welche sexuellen Verhaltensweisen vor dem 14. Lebensjahr der Norm entsprechen und welche als gestört oder auffällig zu charakterisieren sind", sagt König. Die Mehrheit junger Erwachsener berichte, vor ihrem 14. Lebensjahr bereits erste sexuelle Erfahrungen in Form von Doktorspielen gemacht zu haben. Allerdings sei die Bandbreite dabei groß.

"Die Grenzen liegen immer da, wenn ein Kind gegenüber einem anderen tut, was dieses nicht will", sagt Sigrid Richter-Unger von der evangelischen Beratungsstelle "Kind im Zentrum" in Berlin. Das sei der Fall, "wenn Kinder andere verletzen, indem sie versuchen, Gegenstände in Körperöffnungen einzuführen, oder sie beschämen, indem sie ihnen in der Öffentlichkeit die Kleidung vom Leib reißen oder sie auf Toiletten fotografieren." Häufig fassen die Übergriffigen andere Kinder im Genitalbereich an.

Opfer sind meist jüngere Bekannte

Nicht immer sei ein solches Verhalten sexuell motiviert. Oft gehe es darum, Macht auszuüben oder negative Gefühle wie Trauer, Angst oder Wut wegzuschieben. Als problematisch bezeichnet der Psychologe, dass 84 Prozent der untersuchten "Täter" das im Schnitt drei bis vier Jahre jüngere Opfer kannten. "Dieser Altersunterschied oder die Abhängigkeit, die zwischen Opfer und sexuell übergriffigem Jungen besteht, kann dazu führen, dass das Opfer schnell einwilligt in sexuelle Handlungen."

Der Nachbarsjunge versprach Frederik Bergheim Bonbons. In der alten Fabrik ließen die Jungen nicht nur die Hosen herunter, um zusammen zu urinieren. "Unser Sohn erzählt, dass der Junge zumindest versucht hat, bei ihm in den After zu penetrieren. Am meisten hat uns erschreckt, dass er offensichtlich noch auf ihn uriniert hat", sagt die Mutter. Die Bergheims verboten daraufhin ihren Söhnen, mit dem Jungen von nebenan zu spielen. Dennoch hat die Angst, der mittlerweile Zehnjährige könne ihren Kinder erneut etwas antun, sie so zermürbt, dass sie nur eines im Sinn haben: so schnell wie möglich wegziehen.

epd