Clans und Gilden: Die Kleingartenvereine der virtuellen Welt
Auf die Frage, welche Effekte stundenlanges Surfen im Internet hat oder der blutige Kampf gegen Fantasiewesen in virtuellen Welten, gibt es keine eindeutige Antwort. Psychologen und Pädagogen, Kommunikationswissenschaftler und Soziologen, die die Effekte des Lebens und Spielens in virtuellen Welten untersuchen, kommen zu teils widersprüchlichen Ergebnissen. Die stellten sie beim internationalen Kongresses "clash of realities" in Köln vor.
26.04.2010
Von Christine Veenstra

Angesichts der Anziehungskraft, die insbesondere Online-Spiele haben, rücken jüngst neue Aspekte in den Fokus der Forschung: Formen der Vergemeinschaftung in Online-Spielen. Nach Angaben des Bundesverbands Informationswirtschaft, Telekommunikation und neue Medien (Bitkom) haben im Jahr 2009 mehr als 10,3 Millionen Menschen Online-Computerspiele gespielt. Für die besondere Anziehungskraft von Multiplayer-Online-Games scheinen unter anderen soziale Faktoren bedeutsam zu sein, und die Möglichkeiten der Vernetzung und Kommunikation sind nach Einschätzung von Wissenschaftlern weit mehr als reines Beiwerk der Spielentwicklung.

Insbesondere im Rollenspiel-Genre sind viele Spieler in Gruppen von durchschnittlich 22 bis 37 Online-Spielern organisiert, die im Verbund Spiel-Missionen und Aufgaben bewältigen. Rund 60.000 dieser Clans und Gilden gibt es nach Angaben des Erfurter Instituts für Computerspiel, "SpawnpointT", allein im deutschsprachigen Raum.

Jeffrey Wimmer, der beim "clash of realities" in Köln zum "Potential von Online-Spielwelten für Public Value" referierte, sieht angesichts der Abnahme von in Gemeinschaft verbrachter Zeit einen durchaus positiven Trend in den neuen Formen der Vergemeinschaftung im Internet. Er ist überzeugt, dass Spielräume im Internet den Aufbau von Sozialkapital, Partizipation und gesellschaftliches Engagement fördern. "Die Unterhaltung auf dem Bürgersteig ist virtualisiert", so Wimmer. In Spieler-Gruppen finde nicht nur Spiel-bezogene Kommunikation statt, sondern auch persönlicher Austausch und politische Kommunikation.

Demokratisches Verständnis über Online-Spiele schaffen?

Politik und bürgerschaftliches Engagement in Spielwelten? Dass es das gibt, zeigt das Beispiel World of Warcraft. In dem Online-Rollenspiel habe der Austausch von Spielern zu einem Streik der Kriegerkaste geführt, zu einem echten demokratischen Akt, so Wimmer. "Ein einzelner Krieger, der die Angehörigen der Kriegerkaste durch die Spielstruktur benachteiligt sah, hat dort zum Sit-in aufgerufen", berichtet der Wissenschaftler. Das Ergebnis des virtuellen Streiks war für die Aktivisten unerfreulich: Die Beteiligten wurden von den Spiel-Servern verbannt.

Doch nach Einschätzung Wimmers macht das virtuelle Sit-in den Wert deutlich, den Handlungs- und Kommunikationsräume in Online-Spielen bieten: "Eine größere Kommunikative Vernetzung der Bürger untereinander führt zu mehr zivilgesellschaftlichem Engagement." Da konventionelle Medien insbesondere Jugendliche immer schlechter erreichen würden, seien digitale Spielwelten besser als andere Medien geeignet, Public Value zu schaffen. "Wenn wir so etwas wie eine demokratische Gesellschaft auch in 50 Jahren noch aufrecht erhalten wollen, müssen wir jetzt schon darüber nachdenken, was geeignete Kanäle sind, um demokratische Werte zu vermitteln."

Eine Flucht in vor-moderne gesellschaftliche Regeln?

Auch Tobias Bevic, Politikwissenschaftler an den Universitäten Augsburg und Frankfurt, hat soziale und politische Phänomene in Online-Spielen untersucht. Speziell in Clans und Gilden hat er festgestellt: "Spieler erfahren Gemeinschaft, Solidarität und eine gewisse Form von Selbstwirksamkeit." Im Hinblick auf die Führungs- und Entscheidungsstrukturen vieler Clans und Gilden sieht Bevic eine "Politik des Allgemeinwohls" anstelle einer "Politik der Rechte". Die gemeinschaftlichen Werte und Traditionen einer Gruppe würden betont.

"Ich würde die These aufstellen, dass die Leute das Bedürfnis nach recht altertümlichen Werten haben", so Bevic in Köln. "Im realen Leben kann man so etwas vielleicht in Kleingärtenvereinen finden." Die Struktur der Gemeinschaften in Online-Spielen ließen eine Art Flucht in "vor-moderne" Zeiten erkennen - ein Phänomen, das sich auch im realen Leben äußere, etwa im Hype um Mittelalter-Feste.

Wenn die Mitglieder von Clans und Gilden ihre Ordnungen, Entscheidungs- und Führungsstrukturen abstimmen und festlegen, kann das das Verständnis für politische Prozesse fördern und zudem Gelegenheit für soziales Lernen sein.

Sozialer Druck durch Clan-Strukturen

Doch es gibt auch negative Aspekte des sozialen Miteinanders im Internet. In den Regeln eines Clans kann vieles festgehalten werden, zum Bespiel ein Mindestalter für Mitglieder, aber auch eine Mindestspielzeit pro Woche. Da der Betrieb in vielen Online-Spielen niemals ruht, kann ein Clan nur dann besonders erfolgreich sein und in höhere Level aufsteigen, wenn möglichst viele Mitglieder häufig online sind und Spielaufgaben bewältigen. Spieler fühlen sich gegenüber ihrem Clan verpflichtet, und hier setzt die Debatte um exzessives Spielen und um Spielsucht an.

Zwei Drittel der Spieler seien unauffällig, fasst der Kommunikationswissenschaftler Professor Thorsten Quandt die Ergebnisse einer repräsentativen Stichprobe unter 14-64-jährigen Online-Spielern zusammen. "Wir hatten fünf Prozent der Nutzer, die mehr als 50 Stunden in der Woche spielen. Aber die Nutzungszeit alleine ist nicht aussagekräftig für die Frage nach einer Verhaltensstörung", so Quandt. Internet- und Computerspielsucht tauchen in der internationalen Klassifikation psychischer Störungen bisher nicht auf, sollen aber aufgenommen werden.

Medienkompetenz ist die sinnvollste Sucht-Vorbeugung

Derzeit gehen Psychologen in der Diagnostik von Internet- und Computerspielsucht davon aus, dass bei Spielsüchtigen Symptome zusammenkommen, die teils auch andere Süchtige zeigen: Toleranzentwicklung, die sich durch die Steigerung der Online- und Spiel-Zeiten äußert, Vernachlässigung des realen Lebens, Entzugserscheinungen wie Nervosität und Unruhe und ein unwiderstehliches Verlangen nach dem Online-Sein oder -Spielen.

"Der Spieler merkt, er tut etwas, das ihm nicht gut tut, kann aber nicht aufhören", so Klaus Wölfling, Psychologe der deutschlandweit ersten Ambulanz für Computerspiel- und Internetsucht in Mainz. Den besonderen Sog, den viele Spiele entfalten, sieht Wölfling unter anderem in ihren gut funktionierenden Belohnungssystemen begründet. Für gutes Spielen gibt es neue Schwerter, den Aufstieg in ein höheres Level und virtuelles Geld. "Misserfolge sind seltener als im realen Leben. Sie können ihre Leiche jederzeit wiederbeleben", so Wölfing in Köln.

Einig waren sich die Experten beim "clash of realities", dass Medienkompetenz letztlich die wirksamste Vorbeugung gegen negative Folgen des Spielens sei und dass auch die Wissenschaft einiges dazu beitragen kann.


Christine Veenstra ist freie Journalistin in Düsseldorf.