Abdullahi Bari Barrow sitzt mit untergeschlagenen Beinen im Schatten eines dornigen Akazienbaumes. An den Baumstamm gelehnt steht die Schultafel, auf die er mit einem langen Stock deutet. Buchstabe für Buchstabe zeigt er an, und seine Schüler, die auf Strohmatten vor ihm kauern, brüllen im Chor mit. Jungen und Mädchen sitzen getrennt, selbst die kleinsten Mädchen haben ihre Haare unter einem Schleier verborgen.
Die Kinder somalischer Nomaden im weiten Umkreis des Dorfes Dertu im Norden Kenias kommen aus einer traditionellen muslimischen Stammesgesellschaft - und auch wenn sie alle dem gleichen Familienclan angehören, sind Schleier oder Kopftuch schon für Fünfjährige Pflicht. Mit einer Tradition aber wird nun gebrochen: Zum ersten Mal haben die Nomadenkinder die Chance, eine Schule zu besuchen.
Die Augen der Kinder funkeln, wenn sie ihre Rechenkenntnisse unter Beweis stellen dürfen oder an der Tafel Buchstaben anzeigen sollen. Die Begeisterung am Lernen ist den Mädchen und Jungen anzusehen. Die meisten von ihnen sind die erste Generation ihrer Familie, die lesen und schreiben lernt. Stolz zeigen sie ihre Hefte und Bücher.
"Wir liegen hundert Jahre zurück"
Ahmed Hassan, einer der Stammesältesten, hat sich von seinem nahe gelegenen Zelt aufgemacht, um nach dem Rechten zu sehen. Der hagere graubärtige Mann stützt sich auf seinen Hirtenstab und mustert zufrieden die Klasse, in der auch seine Enkel lernen. "Wir wollen nicht, dass unsere Kinder Analphabeten bleiben wie wir", sagt er. "Wir liegen hundert Jahre hinter den anderen Stämmen im Land zurück, weil wir keine Schulen und keine Bildung haben." Mohammed Issak, ein anderer Stammespatriarch, nickt zustimmend. "Die Viehzucht, unser Leben als Nomaden, das ist unsere Kultur, und wir sind stolz auf unsere Tradition. Aber dieses Leben hält uns in der Vergangenheit gefangen. Wenn unsere Kinder und Enkel etwas lernen, was ihnen in der modernen Gesellschaft hilft und Entwicklung in unser Volk bringt, dann ist das gut für uns alle."
Längst nicht überall sind die Nomaden so aufgeschlossen für Veränderungen. Aber hier, im Dorf Dertu, konnten Mitarbeiter des UN-Entwicklungsprogramms UNDP die Ältesten vom Nutzen einer Schule überzeugen. Zurzeit hat Barrow 44 Schüler, aber nur etwa die Hälfte von ihnen ist gerade im Freiluft-Klassenzimmer unter dem Akazienbaum. "Die anderen unterrichte ich am Nachmittag", sagt er. "Dann übernimmt die Vormittagsklasse das Viehhüten."
Denn bei aller Begeisterung für die Schule - die Kinder müssen ihren Pflichten im Stammesclan nachkommen. Die Kamele, Ziegen und Schafe sind der ganze Wohlstand und Stolz der Nomaden, und ihre Versorgung hat Vorrang. In der unwirtlichen Halbwüste in der Grenzregion zu Somalia müssen vor allem die Mädchen oft lange Wege zurücklegen, um Feuerholz zu sammeln oder Wasser zu holen.
Vermittler zwischen Stammestraditionen und Moderne
Auch Abdullahi Barrow folgt dem Rhythmus der Nomaden. Die Schule, ein Projekt der UN-Millenniumsdörfer, ist das erste "mobile Klassenzimmer" Kenias. Seit dem Beginn der Kampagne vor fast zwei Jahren haben die kenianischen Schulbehörden in anderen Nomadengebieten ähnliche Schulen gestartet.
Etwa alle sechs Wochen zieht die Schule weiter, mit dem übrigen Nomadenlager. Wenn das Vieh die kargen Weideflächen abgegrast hat, wird das Schulkamel, das der Lehrer von der Schulaufsicht in Garissa zur Verfügung gestellt bekam, mit Tafel, Bücherkiste, Barrows großem Kuppelzelt und übrigen Habseligkeiten beladen, und er wandert mit den Nomaden zum nächsten Lageplatz. Dieses Leben ist für Barrow nicht völlig ungewohnt. "Ich stamme selbst aus einer Nomadenfamilie und habe als Kind Vieh gehütet", sagt er. Doch anders als die meisten Familien schickten ihn seine Eltern zu Verwandten in die Stadt, damit er in die Schule gehen konnte.
Heute sieht sich der junge Lehrer als Vermittler zwischen der Welt der Stammestraditionen und der Moderne. Er ist verheiratet, hat drei kleine Kinder. Seine Familie lebt in Garissa, der etwa 120 Kilometer entfernten Bezirksstadt. Nur einmal im Monat hat der Lehrer ein langes Wochenende, um Frau und Kinder zu sehen. "Das ist das härteste an meiner Arbeit, nicht das Leben in der Wüste", sagt er, und für einen Moment ist sein Lächeln weg. "Wenn ich ein Motorrad oder einen Assistenten hätte, könnte ich öfter nach Garissa und meine Familie sehen."
Wenn das Heimweh nach der Familie plagt, beneidet er seinen Kollegen Abdi Hakeem, der in dem Dorf Bahory in einer fest eingerichteten Schule Nomadenkinder unterrichtet. Viele von ihnen sind Barrows Ex-Schüler, die nun an der Tages- und Internatsschule weiter lernen. Doch längst nicht alle Eltern können oder wollen ihre Kinder so weit weg wissen. Zum einen werden sie als Arbeitskräfte in der Familie gebraucht, zum anderen werden vor allem Mädchen höchstens Verwandten anvertraut. Eine Schule hingegen ist eine noch unbekannte Größe.
Morgens lernen die Kinder, abends die Erwachsenen
Als Abdullahi Barrow seine Arbeit begann, hatte er mehr als 120 Schüler. Doch die Dürre des vergangenen Jahres zwang die Nomaden, sich in mehrere Teilgruppen aufzuteilen - Barrow blieb bei der Gruppe mit den meisten Kindern. "Ich hoffe, dass die anderen wieder dazu stoßen, wenn die Weiden wieder grün sind", sagt er. "Aber je härter die Umstände werden, umso größer wird die Zahl der Schüler, die den Unterricht verlassen müssen."
Vor allem die Mädchen müssen dann oft den Familien helfen, statt lernen zu dürfen. "Dabei verlieren die Mädchen, wenn sie erst mal in der Pubertät sind, ohnehin mehrere Schultage im Monat", klagt Barrow. "Wenn sie ihre Monatsblutung haben, kommen sie nicht zur Schule, weil sie keine Binden haben und sich schämen oder unrein fühlen." Er habe schon öfter die Schulverwaltung um Binden für die Mädchen gebeten, aber die fühle sich nicht zuständig. "Und selbst wenn - darüber kann ich als Mann, der mit den Mädchen nicht einmal verwandt ist, auf keinen Fall sprechen", sagt der Lehrer. "Da muss schon eine Frau kommen und mit den Mädchen reden. Die meisten werden ja noch nicht einmal in den Familien aufgeklärt und sind von der ersten Menstruation völlig überrascht."
"Das erste Mal, dass ich Gelegenheit zum Lesen habe"
Veränderungen brauchen Zeit in der Welt der Nomaden. Aber immer mehr wollen nicht auf den Tag warten, an denen ihre Kinder ihnen aus der Zeitung oder Büchern vorlesen können, sondern selbst etwas lernen. Wenn also die Kinder der Nachmittagsschicht zu ihren Familien zurückkehren, ist der Arbeitstag für Barrow noch lange nicht vorbei. "Dann kommen die Erwachsenen, die lesen lernen wollen", sagt er lächelnd. Unterrichtet wird im Schein einer Solarlampe, die an Barrows Zelt angebracht ist. "Die meisten meiner erwachsenen Schüler sind Frauen", sagt der Lehrer. "Sie wollen in der Lage sein, ihren Kindern zu helfen, aber auch sicher stellen, dass sie auf dem Markt in der Stadt nicht übers Ohr gehauen werden." Vor allem Rechenkenntnisse sind deshalb gefragt.
Auch die 17-jährige Habiba hat ihren Mann überredet, sie zur Schule gehen zu lassen. Vier ihrer jüngeren Geschwister lernen in Barrows mobilem Klassenzimmer. "Das ist das erste Mal in meinem Leben, dass ich Gelegenheit zum Lernen habe", sagt die selbstbewusste junge Frau. "Das will ich mir nicht entgehen lassen. Wenn ich lesen und rechnen kann, kann ich mehr aus meinem Leben machen." Sie träumt davon, einen kleinen Marktstand zu eröffnen, am großen Wasserloch, an dem täglich Viehhändler und Nomaden vorbei kommen, Tee oder Seife zu verkaufen. "Früher wäre das nur ein Traum gewesen. Aber ich weiß, was ich will, und wenn ich lerne, was ich als Geschäftsfrau wissen muss, kann ich das umsetzen", versichert sie stolz. "Vielleicht kann ich sogar eines Tages ein kleines Restaurant aufmachen."
Die Bildung ermöglicht den Nomaden neue Möglichkeiten
Es sind Schüler mit Ehrgeiz, Träumen und Hoffnungen, die auch Barrow immer wieder bei seiner Arbeit motivieren. "Diese Arbeit macht mich glücklich und stolz", sagt er. "Hier geschieht etwas, das unserem Volk eine bessere Zukunft geben kann." Er weiß, die Möglichkeiten der Nomadenschule sind begrenzt. Ein bisschen Lesen, Schreiben und Rechnen ist nur ein Anfang, ersetzt nicht den Unterricht auf einer weiterführenden Schule. Aber es ist wenigstens ein Anfang.
"Das sind unschuldige Kinder, und sie sind gefangen im Lebensstil der Nomaden", sagt er leise. "Ich will ihnen wenigstens eine Chance geben." Für den zehnjährigen Hassan jedenfalls ist schon klar, dass er nicht sein ganzes Leben lang Kamele und Ziegen hüten will. "Ich will auch einmal ein Lehrer werden", sagt der aufgeweckte Junge. "Davon gibt es bei uns bisher viel zu wenige."
Auch Ahmed Hassan, der Stammesälteste, ist vom Nutzen der Bildung überzeugt und will, dass seine Enkel eines Tages in Bahory oder an einer anderen Schule der Region weiter lernen können. "Vielleicht erlebe ich noch den Tag, an dem ein Mädchen aus unserem Stamm als Krankenschwester zu uns zurückkommt", sagt er bedächtig. "Und, Inshallah, vielleicht ist eines Tages eines dieser Kinder ein Doktor oder Brunnenbauer."