Filmkritik der Woche: "Vorsicht Sehnsucht"
Auch das neue Werk des französischen Regisseurs Alain Resnais ist ein Juwel: In magisch aufgeladenen Farben erzählt er eine Geschichte über zwei Liebende, die nicht zusammenfinden können.
21.04.2010
Von Gerhard Midding

Marguerite ist eine anspruchs-, aber auch hingebungsvolle Käuferin. Als sie das Schuhgeschäft im Palais Royal betritt, tut sie das mit Entschlossenheit: Das neue Paar soll sich der Form ihrer Füße wie eine zweite Haut anschmiegen. Mit weniger als dem Ideal wird sie sich nicht zufrieden geben. Georges hingegen ist ein argwöhnischer Kunde. Als er eine frische Batterie für seine Uhr braucht, ist er sich sicher, dass die Verkäuferin beim Austausch das Datum verstellen wird.

Zwei Prinzipien etabliert die Einführung zu Alain Resnais’ neuem Film "Vorsicht Sehnsucht", welche seine Figuren fortan indes nach Kräften sabotieren werden: den Wunsch nach dem Passenden, Angemessenen, dem Rechtzeitigen. Resnais erzählt die Geschichte eines leichtfüßigen Stalkings, das sich in eine wechselseitige, abgründige Heimsuchung verwandeln wird. Das Drehbuch von Alex Reval und Laurent Herbiet ist eine vielfältige Verkettung der Ereignisse, in welcher der Annäherung der beiden Protagonisten zugleich viele Hürden in den Weg gestellt werden.

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Marguerite (Sabine Azéma) wird nach dem Einkauf ihre Handtasche gestohlen, und Georges (André Dussollier) findet immerhin ihre Brieftasche wieder. Deren Inhalt setzt Fantasien frei: Für ihr Passfoto mag sie ein ernstes Gesicht aufgesetzt haben, aber das auf ihrem Pilotenschein strahlt munteren Tatendrang aus; die Fliegerei ist eine Leidenschaft, die Georges von seinem Vater geerbt hat. Erst nach langem Zaudern übergibt er die Brieftasche der Polizei und erwartet gebannt ihren Dankesanruf. Aber schon am Telefon schlägt er lauter Misstöne an, weist sie ruppig zurück, als müsse er seine eigenen Sehnsüchte brüsk dementieren: Er ist ein launischer, leicht kränkbarer Verehrer. Aber ein unwiderstehlicher Köder ist ausgelegt bei dieser ersten Begegnung.

Innere Monologe

Ein zunehmend leutseliger Kommentar aus dem Off gibt vor, Spuren für den Zuschauer auszulegen, schlägt aber vor allem Widerhaken in die Verbindung, die der Film zwischen den Figuren knüpft. Resnais legt sie als Rätsel an. Marguerite stellt er in flüchtiger Fragmentierung vor: eingangs sieht man nur ihre Hände und Füße, ihren Rücken und den roten Haarschopf, es braucht Geduld, bis er uns ihr Gesicht offenbart. Später werden wir sie als dämonische Zahnärztin kennenlernen. Georges ist offenbar Rentner. Seine inneren Monologe verleiten dazu, ihm ein bedrohliches Maß an Frauenfeindlichkeit zu unterstellen, das sein Umgang mit seiner Frau (Anne Consigny) zunächst jedoch nicht bestätigen mag. Wie bei den wilden Gräsern des Originaltitels, die auch dort wachsen, wo es eigentlich unmöglich ist, blühen unverhoffte und unwägbare Regungen auf.

Ein untilgbarer Schimmer liegt von Anfang an über dem Film. Resnais’ Kameramann Eric Gautier filtert sanft das Licht. Wie in ihrem ersten gemeinsamen Film "Herzen" ist jede Einstellung weichgezeichnet. "Vorsicht Sehnsucht" verleiht er eine Aura des Entrückten. Weder Georges’ wackere Ehefrau noch Marguerites skeptisch-unternehmungslustige Freundin (Emmanuelle Devos) bringen Klarheit in die Geschehnisse. Das Irreale entfaltet sich zudem in einer Ausschweifung der Farben. Die mal leuchtend gesättigten, mal pastellfarbigen Akzente laden Kostüme und Requisiten magisch auf.

Unentschlossener Regisseur

Immer wieder verweist diese Scharade der Möglichkeiten den Zuschauer ins Reich der Hypothese. Die Reaktionen der Figuren sind so eigensinnig wie die der überaus agilen Kamera. Die Montage von Hervé de Luze treibt ein exzentrisches Spiel mit der Verschiebung, das an Resnais’ frühes Meisterwerk "Muriel oder die Zeit der Wiederkehr" erinnert; auch dies eine Geschichte über Liebende, die nicht zusammenfinden können, die zögern. Nur eines scheint gewiss: die Figuren mögen unentschlossen sein, ihr Regisseur ist es nicht.

Frankreich 2009. Regie: Alain Resnais. Buch: Alex Réval, Laurent Herbiet (nach dem Roman »L’Incident« von Christian Gailly). Mit: Sabine Azéma, André Dussollier, Anne Consigny, Emmanuelle Devos, Mathieu Amalric. 104 Min. FSK: ab 12, ff.
 

epd