Die andere Seite der Reformationsmedaille
Philipp Melanchthon (1497-1560) war als Altphilologe, Gräzist, Theologe und Pädagoge einer der wichtigsten Wissenschaftler des 16. Jahrhunderts und zugleich an der Seite Martin Luthers einer der Wegbereiter der Reformation. Warum der berühmte Gelehrte und sein Freund Luther "wie zwei Seiten der einen Reformationsmedaille" sind, was Melanchthon tat, wenn er nachts nicht schlafen konnte, warum er nicht nur an Grammatiken, sondern auch an die Kraft der Sterne glaubte und am Ende seines Lebens vor genau 450 Jahren froh war, das "Gezänk der Theologen" hinter sich zu lassen - darüber gibt Prälat Stephan Dorgerloh Auskunft, Wittenberg-Beauftragter der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD).
18.04.2010
Die Fragen stellte Bernd Buchner

evangelisch.de: Philipp Melanchthon ist einer der großen Männer der Reformation, seit Jahrhunderten wird an ihn erinnert. Was ist das Besondere des Gedenkens im Jahr 2010?

Dorgerloh: Melanchthon ist sehr schnell in den Schatten Luthers gerückt worden. Schon bald nach dessen Tod wurde er verdächtigt, ein heimlicher Calvinist zu sein. 1574 sind die Anhänger Melanchthons, die sogenannten Philippisten, aus Wittenberg vertrieben worden. Aus diesem Schatten müssen wir ihn herausholen, denn er gehört auf die gleiche Stufe wie Luther. Melanchthon ist für die Reformation eminent wichtig als Übersetzer, Theologe und Dialogpartner – er und Luther sind wie zwei Seiten der einen Reformationsmedaille. Von daher ist die Erinnerung an diesen kleinen Mann und großen Geist sehr wichtig, zumal wir das Themenjahr "Reformation und Bildung" gestalten.

"Reformation ist Teamwork"

evangelisch.de: Hat Wittenberg Platz für zwei so große, prägnante Figuren?

Dorgerloh: Wittenberg muss sogar Platz für noch mehr haben. Reformation ist Teamwork – da gehören auch Bugenhagen, Justus Jonas, Caspar Cruciger, Cranach oder Spalatin dazu. Sie alle sind wichtige Mitspieler im Gesamtgefüge der Reformation, sie alle haben ihren Ort und ihre Aufgabe. Erst daraus entsteht das Ganze.

evangelisch.de: Melanchthon war ein Universalgenie – er war Theologe, Altphilologe, Pädagoge. Wird mit dem Themenjahr "Reformation und Bildung" der Schwerpunkt eher auf die pädagogische Seite gelegt?

Dorgerloh: Ja. "Reformation und Bildung" ist das zweite Themenjahr der Lutherdekade nach "Reformation und Bekenntnis" mit dem Schwerpunkt Calvin. 2011 lautet der Schwerpunkt: "Reformation und Freiheit" haben. Bekenntnis, Bildung, Freiheit – das ist der cantus firmus der Lutherdekade. Melanchthon selbst hat seinen Schwerpunkt auf Glaube und Vernunft gelegt - das galt es für ihn zusammenzuhalten. Ein zweites Anliegen war ihm: als mündiger Christ muss ich ein gebildeter Christ sein. Ich muss in der Lage sein, das Wort Gottes in meiner Muttersprache zu lesen aber auch verstehen, deuten können. Aus diesem Grunde hat er sehr viel Wert auf Bildung gelegt, viele Impulse für Schulgründungen gegeben und 1526 in Nürnberg selbst ein humanistisches Gymnasium ins Leben gerufen. In seinem Haus in Wittenberg unterhielt er eine Privatschule, in der er zum Beispiel den Studenten schon vor dem Gottesdienst das Evangelium auf Latein erläuterte. Der Gottesdienst selbst war in deutscher Sprache, ihn konnten die ausländischen Studenten nicht verstehen. Melanchthon ist Lehrer durch und durch. Unter seinem Katheder haben bis zu 600 Studenten gesessen.

evangelisch.de: Die Gelehrsamkeit im Glauben war Melanchthon wichtig. Und seine spirituelle Seite?

Dorgerloh: Er kann vor allen Dingen auch als Beter wiederentdeckt werden. Er hat unglaublich viele Gebete geschrieben, auch in Briefen an Freunde und Schüler, selbst an Königshäuser, mit denen er in Kontakt stand. Beten war für Melanchthon ein ganz wichtiger Teil seines Lebens, ob er unterwegs war oder zu Hause. Wenn er nachts nicht schlafen konnte, ist er aufgestanden und hat gebetet. Das ist eine Seite, die man entdecken kann. Wir sind daher froh, dass in diesem Jahr auch ein Buch mit seinen Gebeten wieder aufgelegt worden ist. Interessant ist, dass in den Gebeten Dank und Klage kaum vorkommen. Spürbar ist aber Melanchthons Gottesbeziehung, der neue Glaube. Da lehrt nicht der Professor sondern betet der Christenmensch Philipp.

evangelisch.de: Melanchthon hat auch an Astrologie geglaubt und bisweilen seine Entscheidungen von der Konstellation der Sterne abhängig gemacht. Ein überraschend irrationaler Zug an einem so geerdeten Gelehrten.

Bibel und Sternenglaube

Dorgerloh: Das ist aus unsere heutigen Sicht ein irrationaler Zug. Melanchthin war fest davon überzeugt, dass Gott, der Schöpfer von Himmel und Erde, in den Dingen die am Himmel passieren erkennbar ist. So wollte Melanchthon aus der Stellung der Sterne oder der Formation der Wolken auf den Gottes Willen schließen. Einmal fragt sich Melanchton bei einer Mondfinsternis, was das für ein Zeichen ist, was da passiert. Auch in der Bibel spielen Himmelszeichen eine Rolle, nicht nur in der Geburtsgeschichte Jesu mit dem Stern von Bethlehem. Für Melanchthon und seine Zeit war es nichts Ungewöhnliches am Himmel nach Gotteszeichen zu suchen. Allerdings: Luther hat davon nichts gehalten. Da waren sie verschiedener Meinung. Interessant ist, dass Melanchthon auch Zugänge zum kopernikanischen Weltbild hatte. Zwei seiner Kollegen waren Schüler von Kopernikus.

evangelisch.de: Welche Rolle spielt Melanchthon in der innerprotestantischen Auseinandersetzung seiner Zeit?

Dorgerloh: Er war der Dialogische der beiden – Luther bevorzugt eher das kräftige Wort. Das liegt sicherlich daran, dass es Luther um das persönliche Seelenheil geht, um die ganz persönliche Frage: Werde ich gerettet? Melanchthon als Humanist hat das auch systemisch im Blick. Ihm ging es auch darum, wie sich die Lehre ausbreitet und die Kirche als Institution erneuert wird. Er hatte, wie das im Humanismus üblich war, Interesse an der Position seines Gegners und wollte mit ihm ins Gespräch kommen. Das hat ihn zu einem gern gesehenen Gast bei den Religionsgesprächen gemacht und dazu geführt, dass Melanchthon der Vater der Confessio Augustana von 1530 werden konnte. Schon deren Aufbau ist bemerkenswert. Der erste Teil versucht zu beschreiben, was wir miteinander bekennen können. Damals trennte man ja noch nicht in katholisch und evangelisch, sondern sah sich in einer Kirche, wenn auch mit unterschiedlichen theologischen Positionen. Der zweite Teil behandelt Klöster, Zölibat, Laienkelch – da ist klar: Das ist strittig, darüber müssen wir streiten. Allerdings haben die Altgläubigen, bereits dem ersten Teil nicht zugestimmt, wohl auch weil im Hintergrund politische Machtfragen eine Rolle spielten und es nicht nur um eine theologische Fachdebatte ging. Aber die Confessio Augustana ist ein Dokument, das sich für den ökumenischen Dialog eignet. Wir haben eine gemeinsame Geschichte und ein gemeinsames Bekenntnis. Von daher kann Melanchthon in beiden Kirchen als Vater im Glauben gelten, der ökumenischen Brückenbau ermöglicht.

evangelisch.de: Melanchthons Todestag, der 19. April, ist rein zufällig der Tag, an dem Joseph Ratzinger vor fünf Jahren zum Papst Benedikt XVI. gewählt wurde. Ein Symbol der Ökumene?

Dorgerloh: (lacht) Das muss man die Römer fragen, ob sie das bewusst so ausgesucht haben. Melanchthon hat sich zeitlebens um den Dialog bemüht, kurz vor seinem Tod aber mit einem tiefen Seufzer gesagt: Wenn ich sterbe, bin ich befreit vom Gezänk der Theologen. Da waren zwei Herzen in seiner Brust. Es ist nicht so, dass er nur kompromissbereit war. Er war durchaus klar in seinen Positionen und disputationswillig und –lustig. Aber es ist auch eine Last, immer wieder Brücken zu bauen, zumal wenn von der anderen Seite niemand herüberkommt.

evangelisch.de: Was wäre aus der Reformation geworden, wenn es den ausgleichenden, um Frieden und Verständigung bemühten Melanchthon, der seine letze Ruhe neben Luther fand (Foto: Melanchthons Grab in der Wittenberger Schlosskirche) nicht gegeben hätte?

Dorgerloh: Er hatte große Sorge um den Frieden. Das hängt mit seiner Biografie zusammen, sein Vater stirbt an Kriegsfolgen. Als Kind erlebt er die Belagerung seiner Heimatstadt Bretten. Das hat ihn sehr geprägt. Er war von daher sehr darum bemüht, dass der konfessionelle Streit nicht zu einem militärischen Konflikt wird. Gleichwohl war ihm an verschiedenen Stellen deutlich, dass sich das nicht ganz vermeiden lassen wird. Zur Frage, wie weit man dem Kaiser Gehorsam schuldig ist, sagen Luther und Melanchthon: Es gibt ein Widerstandsrecht, wenn nicht sogar eine Pflicht – wenn es darum geht, den Glauben zu wahren und zu verteidigen. Melanchthon musste dann mit seiner Familie aus Wittenberg fliehen. Auf der Flucht zu sein, gehört zu seinen prägenden, traumatischen Erlebnissen. Der Frieden ist so kostbar, dass wir alles tun müssen, um ihn zu erhalten. Im Krieg kann sich der neue Glaube auch nicht ausbreiten.

Bildung, Bildung, Bildung

evangelisch.de: Melanchthons Vermächtnis könnte lauten: Bildung, Bildung, Bildung. Was muss ein Christ des 21. Jahrhunderts über ihn wissen?

Dorgerloh: Ich weiß gar nicht, ob es nur die Bildung ist. Ein Vermächtnis wird die Rechtfertigung sein: Wir sind befreit durch die Liebe und die Gnade Gottes, nicht aus den Werken heraus. Melanchthon hat deswegen so auf Bildung gesetzt, damit wir diese Erkenntnis haben. Religion war nicht dazu da, um gebildet zu sein, sondern Bildung war da, damit die Religion zu ihrem Recht kommt. Das dreht sich in den heutigen Debatten manchmal um, indem wir sagen: Religion gehört zu einem gebildeten Menschen. Melanchthon sagt: Bildung gehört zu einem religiösen Menschen. Gleichwohl gehört beides zusammen. In seinem Wappen steht: Wenn Gott für uns ist, wer mag gegen uns sein? Auch das zeigt diesen tief religiösen Menschen mit einer breiten Bildung. Glaube und Vernunft gehören zusammen. Ein protestantischer Christ braucht einen kühlen Kopf und ein warmes Herz.