Auch in China gibt es kein Entkommen vor dem Beben
Erdbeben gehören zu den zerstörerischsten Kräften, die die Natur freisetzen kann. Sie kommen in Sekunden, aber ihre Folgen sind noch jahrelang zu spüren. Man kann ihnen nicht entkommen, man kann sie nicht vorhersagen. Auch Frühwarnsysteme funktionieren nicht immer und überall, trotz der umfangreichen Forschung in dem Bereich.
14.04.2010
Von Hanno Terbuyken

"Eine Vorhersage von Erdbeben ist zur Zeit nicht möglich." Dr. Heiko Woith vom GeoForschungszentrum Potsdam (GFZ) ist da kategorisch. Er arbeitet im GFZ in der Abteilung 2, Erdbebenrisiko und Frühwarnung. Er und seine Kollegen um Sektionsleiter Professor Dr. Jochen Zschau wissen, was geht und was nicht – sie forschen unter anderem zu dem "Risikogebiet Megacity", um Großstädte vor Erdbeben und ihren Folgen zu schützen, und an einem Echtzeit-Warnsystem für Nachbeben großer Erdschwankungen.

Aber ein Warnsystem ist nicht das Gleiche wie eine Vorhersage. Die ist mit den aktuellen Mitteln der Forschung nicht machbar, allerdings haben nicht alle Wissenschaftler die Hoffnung aufgegeben: "Es gibt in der wissenschaftlichen Community zwei Lager. Die eine Gruppe sagt, Erdbeben sind nicht vorhersagbar. Die anderen sagen: Wir müssen noch mehr lernen, wir müssen noch mehr Daten sammeln, vielleicht kann es uns irgendwann gelingen." Aber Woith weiß: Wenn nicht unmöglich, ist es doch sehr, sehr komplex.

Unsichtbare, 140 Jahre alte Spannungen

Denn was unter der Erdoberfläche passiert, ist nicht sichtbar und auch nicht immer rechtzeitig messbar. Schwere Erdbeben entstehen durch ruckartige Verschiebungen von Gesteinsschollen im tieferen Bereich der Erdkruste. Seit Urzeiten treiben große Teile der Erdkruste, so genannte tektonische Platten, auf flüssigem Gestein wenige Zentimeter oder nur Millimeter pro Jahr langsam um den Globus. Diese tektonischen Platten können größer als ein Kontinent sein. Dort, wo sie aneinander stoßen, überlagern sich die Platten, verhaken sich, kollidieren. Gebirge entstehen, ebenso wie lang aufgestaute Spannungen. Die können sich dann schlagartig in Beben entladen.

Das verheerende Erdbeben vom Januar in Haiti war ein Beispiel dafür: Es entstand an der Grenze zwischen der karibischen und der nordamerikanischen Platte. Im südlichen Teil des Systems rutscht die kleinere karibische Platte Richtung Osten an der nordamerikanischen vorbei, die sich Richtung Westen bewegt. Bei einem "Sprung" der verhakten Platten soll sich eine mehr als 140 Jahre lang aufgebaute Spannung entladen haben.

Das lässt sich nicht vorhersagen, aber manchmal vorzeitig bemerken. "Unter bestimmten geologischen Voraussetzungen funktioniert ein Frühwarnsystem gut", erklärt Woith. Mexiko City oder Japan seien gute Beispiele: Die meisten Erdbeben in Mexiko starten unterseeisch, und die aufgestellten Messgeräte entdecken das Epizentrum, bevor die seismischen Wellen Mexiko City erreichen.

Ganze Orte werden dem Erdboden gleich

Doch nicht immer kann man vorwarnen. "Es gibt Gegenden, in denen eine Frühwarnung physikalisch einfach nicht geht", erläutert Woith. In Haiti im Januar lag das Epizentrum des Bebens in nur 17 Kilometer Tiefe – für geologische Begriffe ist das flach. Die Schockwellen verbreiten sich mit mehreren Kilometern pro Sekunde durch die Erdkruste. Woith: "Da sagen das Seismometer und das Haus gleichzeitig Bescheid." Die einzige Chance ist, nicht dort zu wohnen. Die Möglichkeit hatten aber weder die Armen in Haitis Hauptstadt Port-au-Prince noch die Opfer des jüngsten Erdbebens in China. In ersten Berichten über das Beben dort hieß es, dass Orte fast dem Erdboden gleichgemacht wurden, wie in der 250.000 Einwohner zählenden Stadt Jiegu in der Präfektur Yushu.

"Selbst wenn man mit einem Erdbeben gerechnet hätte, würden die Leute da wahrscheinlich genauso bauen, weil sie gar keine anderen Ressourcen haben", sagt Martin Voss, Leiter der Katastrophenforschungsstelle in Kiel. Was er über das Erdbeben in Haiti sagt, gilt auch für das tibetische Hochplateau in China: Die Häuser dort können einem Erdbeben nicht standhalten. "Die Häuser hier sind meist aus Holz und Lehm gebaut", erklärte der Vizenachrichtenchef des Fernsehens von Yushu, Karsum Nyima: "Fast alle Häuser sind eingestürzt." Er beschrieb die Lage als chaotisch: "Die Menschen sind alle auf den Straßen, stehen vor den Trümmern ihrer Häuser."

Armut sei auch ein Erdbebenrisiko, sagt Erdbebenforscher Voss: "Wenn die Bevölkerung so verarmt ist, dann baut man eben nach dem Motto: Hauptsache ein Dach über dem Kopf." Es ist nicht das erste Mal, dass in China ein Erdbeben Menschenleben kostet. Im Mai 2008 waren in der Provinz Sechuan mehr als 85.000 Menschen gestorben, über fünf Millionen Häuser stürzten ein. Und am 27. Juli 1976 kam es zu einer der größten Katastrophen nach dem zweiten Weltkrieg: Bei einem Beben im Norden des Landes starben zwischen 255.000 und 70.000 Menschen. Bis heute ist die genaue Zahl unbekannt.

Beim Erdbeben ins Freie flüchten

Der Ort des Epizentrums eines Bebens ist entscheidend für die Folgen. Selbst schwerste Erdbeben mit einer Stärke von 8,0 oder mehr auf der Richter-Skala richten in mehr als 100 Kilometern Tiefe keinen Schaden an, auch wenn sie die Erdoberfläche zum Schwingen bringen. Gefährlicher ist das Gerüttel, das bei flachen Beben entsteht – Gebäude halten solchen Erschütterungen nicht stand.

Die Natur hingegen schon, weshalb das GeoForschungszentrum empfiehlt, bei einem Erdbeben ins Freie zu flüchten. Manchmal ist das aber auch nicht machbar. Geologe Woith kennt das aus eigener Erfahrung: Ein Erdbeben der Stärke 5,5 hat ihn und einen Kollegen eines Nachts in der Türkei im vierten Stock eines Gästehauses erwischt. "Springen ging nicht, also haben wir überlegt: wenn wir jetzt loslaufen, stecken wir irgendwo im Treppenhaus fest." Also stellten die beiden Forscher sich in den Türrahmen – eine der stabilsten Stellen in Häusern – fühlten die Wände wackeln und warteten auf das Ende des Bebens: "Viel mehr kann man da nicht machen."

In China hatten die Opfer des Bebens nicht einmal dafür Zeit: Die Schockwellen der Stärke 7,1 überraschten die Menschen in den frühen Morgenstunden, viele schliefen noch - und wurden unter ihren zusammenstürzenden Häusern begraben.


Der Text ist eine aktualisierte Fassung von "Wenn die Erde wackelt, gibt es kein Entkommen", erschienen am 14. Januar nach dem Erdbeben in Haiti.

Hanno Terbuyken ist Redakteur bei evangelisch.de, zuständig für die Ressorts Gesellschaft und Wissen, und schreibt das Blog "Angezockt".