Seelsorger im Katastropheneinsatz: Hilfe für die Helfer
"Es war nicht meine erste Auslandserfahrung", sagt Joachim Müller-Lange, "aber in ihrer Intensität schon etwas Besonderes." Im Gespräch berichtet der Notfallseelsorger der Rheinischen Landeskirche nach seiner Rückkehr aus dem Erdbebengebiet in Haiti über den Einsatz vor Ort, die Belastung für die Helferinnen und Helfer und die Aufgaben eines Notfallseelsorgers.
14.04.2010
Die Fragen stellte Thomas Östreicher

evangelisch.de: Herr Müller-Lange, wie unterscheidet sich ein Einsatz in einem Erdbebengebiet etwa von dem bei einem Zugunglück?

Joachim Müller-Lange: Die Bedingungen sind ganz andere. Bei einer Naturkatastrophe wie in Haiti sind die Helfer lange Zeit den Eindrücken der Zerstörung ausgesetzt, und es ist ganz klar: Die Hilfe kann nicht nur aus der Akuthilfe in den ersten Tagen bestehen, sondern es braucht ein längerfristiges Engagement. Das heißt, man ist länger vor Ort gebunden, zum Beispiel, weil viele Opfer erst nach einiger Zeit entdeckt werden. Das muss dann in eine nachhaltige Hilfe übergehen.

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evangelisch.de: Hatten Sie das Gefühl, es wird genug getan?

Müller-Lange: Unser Einsatz dauerte zusammen mit der Reisezeit 14 Tage, aber auch danach sind die Aufgaben noch nicht abgearbeitet. Wenn man den Einsatz beendet und weiß, die brauchen noch mehr, kann das sehr belastend wirken. Wohltuend war zu wissen, es kommt ein Folgeteam.

evangelisch.de: Um wen haben Sie sich als Seelsorger gekümmert?

Müller-Lange: Mein Einsatz war vorgesehen für die deutschen Einsatzkräfte der Johanniter. Der deutschen Botschaft wurde Unterstützung für andere deutschsprachige Einsatzkräfte angeboten und auch um Angehörige von deutschen Erdbebenopfer, wenn es vor Ort welche gegeben hätte.

"Ein stabiler Rahmen"

evangelisch.de: Bleibt in einer Situation, in der es auf Stunden, manchmal Minuten ankommt, überhaupt Zeit für psychosoziale Begleitung?

Müller-Lange: Ja, aber nicht sofort. Am Anfang sorgen wir mit für einen stabilen Rahmen. Während beispielsweise unsere Ärzteteams schon mit Amputationen beschäftigt waren, habe ich mit den anderen das Camp aufgebaut, wir haben für das leibliche Wohl der Kameraden gesorgt und dafür, dass sie eine klare Unterstützung an der Basis hatten. Das Nachdenken, das seelsorgliche Unterstützen kam dann erst nach einigen Tagen voll zum Tragen.

evangelisch.de: Wie sieht Ihre Unterstützung aus?

Müller-Lange: Grundsätzlich unterscheiden wir deutlich zwischen der Hilfe für Opfer - der Notfallseelsorge und Krisenintervention - und der Unterstützung für Helfer, der Einsatznachsorge. Schon am Begriff Einsatznachsorge erkennt man die ursprüngliche Philosophie dahinter: nämlich jemanden erst nach seinem belastenden Einsatz zu versorgen. Inzwischen ist man zu der Überzeugung gelangt, dass auch die Vorbereitung auf einen Einsatz wichtig ist, was auch wissenschaftliche Untersuchungen bestätigen. In der Psychologensprache ausgedrückt, habe ich "primäre Prävention" während des Einsatzes betrieben, also jeden Tag geholfen, die Helfer auf ihre Arbeit vorzubereiten - mit Andachten und Worten zum Tage, in die ich diese primäre Prävention eingebaut habe.

Das Leid wird hautnah erlebt

evangelisch.de: Was belastete die Helfer auf Haiti besonders?

Müller-Lange: Der Eindruck einer extrem zerstörten Umwelt und das persönliche Leid bei den Opfern. Dazu gehört zum Beispiel das Leid einer Mutter, die erleben muss, dass ihrem Kind ein Bein amputiert werden muss. All dem waren Helferinnen und Helfer sehr nah ausgesetzt.

evangelisch.de: Dazu kam der zeitweise Zerfall der gesellschaftlichen Strukturen - unsere Medien berichteten auch von Plünderungen.

Müller-Lange: Es stimmt, dass in seelischen Extremsituationen die zivilisatorische Decke ziemlich dünn werden kann, und es stimmt auch, dass Warenhäuser ausgeräumt worden sind. Aber ich habe das "zwanghafte Nahrungssuche" genannt. Wenn in den ersten drei, vier Tagen noch keine Hilfe eintrifft, dann müssen die Menschen versuchen, irgendwie an Nahrung zu kommen. Das würde ich auch jedem zugestehen. Es ist richtig, dass Fernseher geklaut wurden und es solche Plünderungen gab - der Eindruck ist allerdings falsch, dass die Gesellschaft in Haiti insgesamt gekippt sei.

Auch Katastrophenopfer verhalten sich nicht immer edel

evangelisch.de: Wie geordnet lief die Verteilung der Hilfsgüter?

Müller-Lange: Bei der Lebensmittelhilfe hat es vereinzelt Ausschreitungen gegeben. Aber einfach mit einem Lastwagen in einen Slum zu fahren und zu hoffen, dass die Verteilung wie von selber geschieht, scheint mir auch etwas naiv zu sein. In dem Moment, als die Verteilung ausschließlich über die Frauen organisiert wurde, hat sie geklappt. Angriffe auf medizinische Helfer oder Medikamententransporte gab es nie.

evangelisch.de: Trotzdem: Opfer verhalten sich nicht immer edel.

Müller-Lange: Auch das kann die Helfer belasten. Von einem auf den anderen Tag musste die Sicherheitsstufe erhöht werden, sodass bestimmte Orte nicht mehr versorgt werden konnten. Wenn man genau dort Patienten weitere Wundversorgung versprochen hat und dieses Versprechen nicht einhalten kann, kann das für einen Helfer eine extreme Belastung sein..

Helfer willkommen

evangelisch.de: Was geschah nach Ihrer Rückkehr?

Müller-Lange: Bei den Johannitern ist das anschließende Helfertreffen eine Selbstverständlichkeit. Zum einen bilanziert man einsatztaktisch, was gut gelaufen ist oder was beim nächsten Einsatz verändert werden sollte. Zum anderen wird auch geschaut, was an Belastungen übrig geblieben ist.

evangelisch.de: Wie viel ist übrig geblieben?

Müller-Lange: Für unser Team - zwölf Helfer plus Fotografin und Seelsorger - kann ich sagen, dass wohl keine Traumatisierungen herausgekommen sind. Geholfen hat sicher, dass wir täglich arbeiten und so auch den Erfolg des Einsatzes sehen konnten. Auch wenn wir verkraften mussten, dass in den ersten Tagen noch Menschen gestorben sind, ging es doch später vielen Opfern besser. Der Erfolg der beweglichen medizinischen Teams hat uns bestätigt und sehr gestärkt. Für mich persönlich wurde noch einmal deutlich, dass die Johanniter eine Organisation mit achtbaren christlichen Grundsätzen sind. Und dass man von vornherein akzeptierte, dass ein Seelsorger mit dabei ist, war sehr schön zu erleben.

evangelisch.de: Was sagen Sie jemandem, der angesichts einer Katastrophe wie in Haiti den Impuls verspürt zu helfen - über das reine Geldspenden hinaus?

Müller-Lange: Solch ein Impuls ist erst einmal sehr zu begrüßen, denn der Bedarf ist da. Mit einer Einschränkung: Nicht umsonst bereiten alle Hilfsdienste ihre Einsatzkräfte mit Kursen intensiv vor und stimmen sie auch mental ein. Wer dazu und zu dauerhaftem Engagement bereit ist, ist herzlich willkommen.


Joachim Müller-Lange, Jahrgang 1953, arbeitet seit dem Jahr 2000 als hauptamtlicher Landespfarrer für Notfallseelsorge.