Dass der Zölibat, also die vollständige und dauerhafte Enthaltsamkeit, einen Priester pädophil werden lasse, sei natürlich völlig unsinnig, sagt Lütz: "Pädophilie prägt sich zumeist in der Jugend aus und tritt nicht erst während der Priesterausbildung auf", erläutert der Leiter des katholischen Alexianer-Krankenhauses in Köln, einer Fachklinik für Psychiatrie und Neurologie.
Dies sei im Gegenteil oft sogar eine Ausfluchtreaktion pädophiler Priester, die den Zölibat vorschöben. Lütz: "Täter verfügen nicht selten über eine perfide Fähigkeit, die Verantwortung für das, was sie getan haben, von sich wegzuschieben und sich selbst als Opfer der Verhältnisse darzustellen."
Umgang mit Sexualität
Es seien weder die gesellschaftlichen noch die kirchlichen Verhältnisse, die Kinderschänder hervorbrächten, meint Lütz. "Genauso wenig ist es wahlweise allzu repressiver oder allzu permissiver Umgang mit Sexualität." Er verweist auf eine Äußerung des Direktors des Instituts für Forensische Psychiatrie der Freien Universität Berlin, Hans-Ludwig Kröber, nach der die Wahrscheinlichkeit des Kindesmissbrauchs durch katholische Priester 36 Mal geringer ist als bei nicht-zölibatär lebenden Männern. Es sei umgekehrt, so Lütz: Pädophile suchen sich Berufe, bei denen sie in Kontakt mit Kindern kommen.
Auch von der sogenannten "Dampfkessel"-Theorie, nach der Priester ihre Bedürfnisse so lange unterdrücken, bis sie irgendwann aus ihnen herausbrechen, hält Lütz gar nichts: "Das ist eine Macho-These nach dem Motto: Sex muss sein! Mit Recht haben Frauenrechtlerinnen die Strafbarkeit von Vergewaltigung in der Ehe erstritten. Daher gilt: Wer wenigstens nicht zeitweilig auf Sexualität verzichten kann, ist auch nicht ehefähig."
"Nicht die üblichen Gefühle"
Annegret Laakmann von der katholischen Kirchenvolksbewegung "Wir sind Kirche" glaubt allerdings, dass sich Pädophile verstärkt vom Beruf des katholischen Priesters angesprochen fühlen: "Wenn junge Menschen merken, dass sie nicht die üblichen Gefühle haben, dann wählen sie öfters den Zölibat, um sich mit der eigenen Sexualität nicht auseinandersetzen zu müssen."
Regens Markus Hofmann, der Leiter des Erzbischöflichen Priesterseminars in Köln, betont, dass die sexuelle Orientierung der Priesteramtsanwärter schon bei der Auswahl thematisiert wird: "Wir wollen heterosexuelle, normale Männer, denn es bedarf einer ausgewogenen heterosexuellen Neigung, um Priester werden zu können." Die Rolle des Priesters sei eine Vaterrolle, und nur wer sich im Prinzip vorstellen könne, eine Familie zu gründen, könne ihr gerecht werden.
Kontakt mit Psychiatern
Hofmann (42) weist auch die Kritik zurück, die Kirche nehme aus Mangel an Bewerbern fast alle Kandidaten auf: "Wir weisen ein Drittel bis die Hälfte aller Bewerber ab." Das Thema Sexualität wird während der Ausbildung regelmäßig und in unterschiedlichen Formen behandelt.
Bereits im ersten Semester des Theologiestudiums treffen die Anwärter Hofmann zufolge mit einem Psychiater zusammen, der die Wichtigkeit einer guten psychologischen Verfassung und einer sexuellen Ausgeglichenheit erläutert. Es folgen Wochenendseminare mit erfahrenen Theologen und Psychologen, die Sexualität und den Umgang mit dem eigenen Körper thematisieren sowie eine Reihe weiterer Einheiten zum Thema Zölibat.
Moderne Priesterausbildung
Auch Annegret Laakmann von "Wir sind Kirche" hält die moderne Priesterausbildung für umfassend genug: "Aber was ist mit den älteren Jahrgängen, die während ihrer Ausbildung nie etwas zu diesem Thema gehört haben?", will sie wissen und fordert daher Fortbildungsmaßnahmen, in denen nicht nur Sexualität thematisiert, sondern auch psychologische Tests angewendet werden. Sie ist generell für die Abschaffung des Pflichtzölibats, den sie für nicht mehr zeitgemäß hält: "Und irgendwann in den nächsten 150 Jahren wird das auch geschehen", prophezeit sie.
epd