Gerlinde Ocvil stützt sich auf ihre Schaufel und lächelt. Die 28-jährige Haitianerin hatte Glück im Unglück: Ihr Haus in Port-au-Prince ist bei dem Erdbeben am 12. Januar eingestürzt - wie so viele andere Gebäude in der stark zerstörten Hauptstadt. Ohne Obdach und ohne Nahrung machte sich die alleinerziehende Mutter mit ihren beiden Kleinkindern zu Fuß auf den Weg. Vier Tage lang schlug sie sich durch, bis sie schließlich rund 60 Kilometer weiter bei ihren Eltern in der Nähe von Petit Goâve Unterschlupf fand.
Der frühere Tourismusort Petit Goâve westlich der Hauptstadt liegt zwar ebenfalls in Trümmern. Doch Ocvil ergatterte einen Job: In glühender Tropensonne bessert sie jetzt mit ihrem Trupp die Provinzstraße 11 aus, mit nichts anderem als Spitzhacke und Schaufel. Die schweißtreibende Schwerarbeit ist begehrt: Auf eine Stelle kommen durchschnittlich 20 Bewerber. "Es gibt keine anderen Jobs", sagt Ocvil und lächelt unter ihrem Sonnenhut. Mit ihrem Tageslohn von umgerechnet 3,70 Euro kann sie jetzt das Allernötigste kaufen.
Eine apokalyptische Art Alltag
Insgesamt 100.000 Menschen sind derzeit in Haiti in sogenannten Cash-for-work-Programmen tätig, in denen es "Bargeld für Arbeit" gibt. Sie rücken überall dort an, wo Straßen unpassierbar wurden oder der Zivilschutz einsturzgefährdete Häuser kennzeichnet. "A demolir!" (Abreißen!) steht mit roter Farbe auf den vielen bedrohlich schiefen Fassaden. 250 solcher Stellen finanziert und betreut die Deutsche Welthungerhilfe. "Das schafft Jobs und auch Stolz", lobt deren örtlicher Direktor Michael Kühn. Auf Dauer funktionierten diese Sofortprogramme aber nicht.
Drei Monate nach einer der größten Naturkatastrophe der Neuzeit herrscht in Haiti wieder eine Art Alltag. Es ist ein apokalyptisch anmutender Alltag, stinkend und lärmend, zwischen 63 Millionen Kubikmetern Trümmern und Hunderttausenden von Zelten. Allein in der Hauptstadt sind bis zu 900 Camps entstanden, in denen knapp ein Drittel der einst vier Millionen Bewohner unter Planen lebt.
Eine der Obdachlosen ist Jil-Bette Jean (49). Früher hatte sie ein Haus im Stadtteil Carrefour-Feuilles und einen Job im Handel. Jetzt lebt sie mit sieben Familienangehörigen in einem vier Quadratmeter großen Zelt. "Ich würde gerne mein Haus wieder aufbauen, aber es gibt kein Geld und keinen Kredit", sagt die stämmige Haitianerin und zeigt das einzige, was ihr geblieben ist: ein breites und einnehmendes Lachen.
Immer noch Nothilfe statt Wiederaufbau
Schon vor dem Erdbeben war Haiti das ärmste und rückständigste Land des amerikanischen Kontinents. Das Wort "Wiederaufbau" hat in dem Karibikstaat darum einen schalen Beigeschmack, denn er signalisiert eine Rückkehr zu dem nicht weniger elenden Zustand, wie er vor dem Erdbeben war. Eine "Neugründung Haitis" hatte Präsident René Preval darum bei der internationalen Geberkonferenz Ende März in New York versprochen. Doch von all dem ist das Land noch weit entfernt. "Hier findet kein Wiederaufbau statt. Hier wird die Nothilfe koordiniert", sagt Kühn.
Zwischen 230.000 und 300.000 Menschen starben bei dem Erdbeben. Zehntausende überlebten schwer verletzt, verloren Arme oder Beine. Es war zwar eine Naturkatastrophe, die Haiti heimsuchte, aber die schrecklichen Folgen sind menschengemacht. Denn fast das gesamte wirtschaftliche und politische Leben konzentrierte sich in der Hauptstadt Port-au-Prince, die in den vergangenen Jahren zu einer riesigen Ansammlung von Slums anwuchs. Und während der Karibikstaat rund zwei Drittel seiner Lebensmittel importierten musste, lag die Landwirtschaft darnieder, vernachlässigt vom Staat und schutzlos den Billigimporten aus den USA ausgeliefert.
Ziel ist Dezentralisierung, aber die Leute wandern dennoch in die Slums
Das Schlagwort für die Zukunft Haitis, das auch Präsident Preval neuerdings gerne benutzt, lautet darum Dezentralisierung. Michael Kühn von der Welthungerhilfe ist überzeugt, dass die Nahrungsmittelproduktion "verdoppelt oder verdreifacht werden" kann. Ein Erfolgsbeispiel ist die vor sechs Jahren gegründete Molkereigenossenschaft in Petit Goâve, die inzwischen rentabel Frischmilch verkauft. Solche Projekte sind selten. Vielen Menschen auf dem Land bleibt nur die Abwanderung in die Slums.
Ocvil, die lächelnde Bauarbeiterin auf der Provinzstraße 11, hat nun andere Pläne. "Ich gehe nie mehr nach Port-au-Prince. Vorausgesetzt, ich finde hier in Petit Goâve ein Auskommen", sagt die junge Mutter. Sie könnte bei der Dezentralisierung Haitis eine der Pionierinnen sein.