Luthers Rat an "Germany's Next Topmodel": Es reicht nie
Die fünfte Staffel von "Germany’s Next Topmodel" kürt wieder die Schönste im Lande. Eine wöchentlich schrumpfende Kandidatinnenriege präsentiert sich der Fernsehnation - und stellt sich dem richtenden Blick der Jury. Hinter den alles entscheidenden „Fotos“ der Show aber verbirgt sich ein höchst ambivalenter und relativer Wert. "Schönheit" hat etwas mit Beziehung zu tun, sagt die evangelische Theologin Hanna Dallmeier und zeigt auf, was die Schönheitsdebatte von Martin Luther lernen kann.
12.04.2010
Von Hanna Dallmeier

Die Show ist fast vorbei. Jede hat auf dem Catwalk ihr Bestes gegeben: Rücken gerade, Schultern nach hinten, dazu der verwegen-kühle Blick – sich bloß keine Blöße geben beim Vorzeigen der entblößten Beine!

Der wertende Blick von außen: "Die starrt dich kaputt"

Aber aufatmen dürfen die jungen Frauen noch nicht. Jetzt werden sie von Supermodel und Moderatorin Heidi Klum ihr Urteil entgegennehmen. Diese Verkündigung des Jury-Urteils erinnert an Bilder vom Jüngsten Gericht. Es gibt kein Verhandeln, kein Entrinnen: Dieses Wort gilt. Und es ergeht in qualvoller Langsamkeit, mit undurchdringlichem Blick. Eine der Frauen beschreibt diesen Machtkampf der Blicke so: "Dann hat sie angefangen zu starren und nichts zu sagen und nur zu gucken ... Die steht da und starrt dich kaputt!"

Die jungen Frauen, die an der Casting-Show "Germany’s Next Topmodel" als Kandidatinnen teilnehmen, sind zwischen 16 und 25 Jahre alt. In der Sendung werden sie als "Mädchen" bezeichnet, mit Vornamen genannt und wie selbstverständlich geduzt. Die darin zur Schau gestellte Intimität ist Teil der Inszenierung: Sie macht die Frauen jünger als sie sind – als würden sie in die Adoleszenz zurückversetzt. Und sie lässt sie angewiesener, abhängiger wirken - voneinander und von der Jury.

In dieser Serie ist es der Blick von außen, dem die zu Mädchen gemachten Frauen ausgesetzt sind: gebündelt in Heidi Klums Blick, millionenfach multipliziert über Fernsehen und Internet. Dieser Blick ist ein wertender, urteilender Blick: Es geht um schöne Körper und lange Beine. Wenn es nicht "reicht", heißt es eben nach Hause fahren.

Spiegelbild und Männerblick: Wann reicht es denn?

Die Crux des Schönheitsideals, das Menschen, und vor allem Frauen, mit äußeren Maßstäben vermisst: Nicht nur gefährdet jeder Pickel oder jede Spur des Älterwerdens diese "Schönheit" – schon das Schönheitsideal an sich ist unerfüllbar. Wann kann sich eine Frau denn sicher sein, dass sie schön genug ist? Wann „reicht“ es denn?

„In diesen Vorstellungen von Schönheit ist ihre Nichterfüllbarkeit immer schon angelegt, das scheint zentraler Bestandteil dieser Normen zu sein“, schreibt die Soziologin und Geschlechterforscherin Karin Flaake[1]. Nach ihren Erkenntnissen wächst gerade in der Adoleszenz, wenn der eigene Körper für Mädchen eine entscheidende Bedeutung gewinnt, die Angst vor dem Nichtgenügen.

Demnach erfahren viele Mädchen in dieser Lebensphase einen Verlust an Aktivität, Lebendigkeit und Unabhängigkeit. Die Konfrontation mit den gesellschaftlichen Idealen von Weiblichkeit lässt ihr Selbstbewusstsein schrumpfen. Körperlichkeit und Rollenerwartung sind dabei eng verknüpft: Eine Frau muss schön und zugleich fürsorglich sein und nicht zu viel widersprechen wollen, um geliebt zu werden. Und offensichtlich ist die Zeit der Verunsicherung für viele Frauen mit der Adoleszenz nicht vorbei, sondern erst als Erwachsene, wenn Liebessehnsucht und Aufopferungsphantasien enttäuscht sind, finden sie zu ihrer alten Ich-Stärke zurück.

Immer wieder betont die Soziologin in ihren Überlegungen die Abhängigkeit der Frauen vom Urteil der Männer: Männer bestimmen letztlich, welche Frau als schön gilt; von ihrem Begehren und ihrer Bestätigung hängt das Gefühl der eigenen Weiblichkeit ab.

Wenn in der Casting-Show eine Frau über die Schönheit urteilt, widerspricht das dieser Beobachtung nicht. Denn Heidi Klum ist Teil des Business um schöne Körper, an dem Männer wie Frauen verdienen. Und dabei geht es gerade nicht um ein authentisches weibliches Körpergefühl, mit Lust, Müdigkeit und Menstruationsschmerzen, sondern um Körper, die für den wertenden (Männer-)Blick hergerichtet werden: wie „Germany’s Next Topmodel“ Jennifer Hof als langbeinige Schöne auf der Kühlerhaube des Sportwagens in einer Autowerbung.

In deinen Augen bin ich gerecht: Luthers Kampf um Gottes Blick

Einer der Gründungsmythen der Reformation ist Martin Luthers innerer Kampf um die Anerkennung vor Gott, theologisch gesprochen: um die Rechtfertigung. Ein Jahr vor seinem Tod beschrieb Luther 1545[2] rückblickend den Durchbruch in seinem reformatorischen Denken. Als Kind seiner Zeit litt er unter der ständigen Angst, im Jüngsten Gericht nicht bestehen zu können. Niemals konnte er sich sicher sein, genug getan zu haben, um Gottes Gunst zu erwirken. Deshalb hasste er diesen gerechten, richtenden Gott. "So raste ich wilden und wirren Gewissens", schreibt Luther, und suchte doch immer in der Bibel nach einer Antwort.

Er fand sie im Brief des Paulus an die Römer im 1. Kapitel (Vers 17): "Der Gerechte lebt aus Glauben." Der Glaube, die vertrauensvolle Beziehung zu Gott ist es, die das ewige Leben schenkt. Kein Beten, kein Fasten, kein Schönsein des Menschen, sondern die von Gott kommende Gnade und Liebe machen "gerecht". Die Frage: Wann reicht es? beantwortet Luther mit: Es reicht nie – wir sind und bleiben Sünder. Aber in deinen Augen, Gott, bin ich gerecht – deine Liebe ist größer als mein Unvermögen. Deshalb hat Luther seine Taufe so hoch gehalten: Ich bin getauft – ich bin dein geliebtes Kind. Darin lag für ihn die Gewähr für eine unverbrüchliche Gottesbeziehung, für Gottes liebenden Blick.

Ungeschminkt bestehen: Schönheit im Auge des liebenden Anderen

Wann bin ich schön genug? Nie, sagt das Schönheitsideal. Wann bin ich gut genug, um vor Gott zu bestehen? Nie, sagt das vorreformatorische Gottesbild. Das Nicht-Bestehen ist in diesen Denksystemen bereits angelegt.

Zum Glück setzt die Bibel dem eine Geschichte entgegen, das Gleichnis vom verlorenen Sohn (Lukas 15). Abgerissen, schmutzig und schuldbeladen kehrt der Sohn zum Vater zurück. Doch der sagt nicht: "Jetzt wasch Dich erstmal, danach sehen wir weiter". Stattdessen sieht er hinter all dem Dreck seinen geliebten Sohn und schließt ihn in die Arme. Danach gibt es ein Fest, und mit einem neuen Gewand wird der Sohn so schön gemacht, wie er in den Augen des Vaters schon immer war.

"Die Schönheit liegt im Auge des Betrachters", sagt eine alte Redensart. Zwar ist auch der liebende Blick ein Blick von außen – aber er betrachtet nicht wertend, aus der Distanz. Der liebende Blick ist Ausdruck einer tiefen Beziehung des Betrachters zur betrachteten Person. Insofern blickt er auch von innen, aus der Beziehung heraus auf den anderen Menschen.

Und die Topmodels? Ihnen – und allen Mädchen und jungen Frauen, die sich mit dem Schönheitsideal auseinandersetzen müssen – ist zu wünschen, dass sie von liebevollen Beziehungen getragen sind. Dass sie Menschen haben, denen sie im wahrsten Sinne des Wortes ungeschminkt begegnen können. Dass ein liebender Blick auf ihnen ruht. Es könnte auch der Ihre sein.


1 Karin Flaake: "Zuerst, toll! Jetzt bin ich endlich 'ne Frau. Aber jetzt geht’s mir auf die Nerven!". Weibliche Adoleszenz, Körperlichkeit und Entwicklungsmöglichkeiten von Mädchen, in: Sybille Becker / Ilona Nord: Religiöse Sozialisation von Mädchen und Frauen, Kohlhammer 1995, S. 23-34, dort 29.

2 Martin Luther: Vorrede zum ersten Band der Wittenberger Ausgabe der lateinischen Schriften Luthers 1545, in: Karin Bornkamm / Gerhard Ebeling (Hg.): Martin Luther. Aufbruch zur Reformation, Insel-Verlag 1995, S. 12-25.

 


Hanna Dallmeier ist Pastorin, lebt mit ihrer Familie in Hannover und arbeitet als Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fachbereich Evangelische Theologie der Philipps-Universität Marburg. Mit dem Thema "Schönheit" befasst sie sich auch in einer Unterrichtseinheit für die Berufsschule unter dem Titel: "In deinen Augen bin ich schön". Vom Blick Gottes auf den Menschen, Loccumer Pelikan 2/04.