Am Anfang kam die Verwunderung und sogar das Misstrauen. Schnell aber überkam mich Schwermut und tiefe Trauer. Viele Bekannte riefen mich an und fragten, ob es wahr sei, als ob die ganze Tragödie nur ein böser Witz gewesen wäre. Meine Freunde, die im Synodalsaal des Lutherischen Zentrums in Warschau an der Synodetagung seit Freitag teilnahmen, wussten schon Bescheid. Keiner wollte weiter tagen. Die Flut von dramatischen Meldungen floss immer schneller und bald wurde allen klar: Niemand hat überlebt.
Der Staatspräsident und seine Ehefrau sind tot. Alle wichtigsten Militärfunktionäre sind tot. Viele Parlamentarier und einige Regierungsmitglieder sind tot. Vertreter der wichtigsten staatlichen Institutionen sind tot und relativ viele Geistliche, darunter der römisch-katholische Militärbischof, der polnisch-orthodoxe Militärerzbischof und Pfarrer Adam Pilch aus der evangelisch-lutherischen Himmelfahrtskirche, sind auch tot. Viele sind tot, und die Verzweiflung wächst.
Man hat den Eindruck, als ob das ganze Land auf einmal atemlos und zugleich schreit. Spontan laufen viele Menschen zum Präsidentenpalast, wo bereits viele Menschen stehen und beten, einige weinen und zünden Kerzen an und legen Blumen auf den Boden. Es gibt auch Bilder, die von Kindern gemalt wurden. Auch Internetbilder von Lech Kaczynski und seiner Ehefrau. So liebevoll lächeln sie einander an. Überall herrscht Bestürzung. Jemand kommt mit der Nationalfahne und steht fassungslos vor dem Meer der Blumen und Kerzen. So viele kamen ums Leben und unter solchen Umständen. "Katyn 2", hört man, und Kaczynskis Vorgänger spricht sogar vom "verfluchten Katyn". So viele Menschen sind tot, so unterschiedliche Menschen. Die Synode entscheidet sich, die Tagung abzubrechen. Eine Erklärung wird abgegeben. Auch Bischöfe arbeiten an ihrem Hirtenbrief. In der römisch-katholischen Johannes-Täufer-Kathedrale feiert der Erzbischof von Warschau die Messe. Die ökumenischen Gäste sind auch dabei. Tausende von Menschen stehen vor der Kirche und auf den umliegenden Plätzen – die meisten vor dem Königspalast. Es ist zwar schon spät, aber die Menschenmassen drängen immer noch durch die Innenstadt.
Vor dem Präsidentenpalast kann man sich kaum bewegen. Ich gehe weiter. Meine evangelisch-lutherische St Trinitatis Kirche steht in der Nähe des Grabes des Unbekannten Soldaten, an dem sich auch viele Menschen versammeln. Ich rufe meinen Gemeindepfarrer an und schlage vor, dass wir auch unsere Kirche öffnen sollten, da viele Leute an ihr vorbeigehen und vielleicht in aller Stille beten wollen. Die Kirche wird geöffnet. Die ersten Trauernden gehen hinein und beten. Nur ganz wenige sind evangelisch. In der Kirche brennen nur zwei Kerzen – eine vor der Gedenktafel an die in Katyn Ermordeten und eine im Altarraum, in dem sich das Kruzifix und das Bild des Auferstandenen Christus befinden. Dazwischen eine Inschrift: Mein Herr und mein Gott – man möchte hinzufügen: warum? Die Menschen beten in Stille. Auch ich bete. Ich versuche den Sinn im Sinnlosen zu finden, aber es geht nicht. Allein kann ich nicht beten. Zu verwirrt sind die Gedanken. Ich öffne Evangelisches Gesangbuch und bete die Bußlitanei Dr. Martin Luthers und Psalm 90: "Herr, du bist unsre Zuflucht für und für. Ehe denn die Berge wurden und die Erde und die Welt geschaffen wurden, bist du, Gott, von Ewigkeit zu Ewigkeit. Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden."
Dariusz Bruncz (1979), Presse- und Gemeindereferent der Evangelisch-Augsburgischen St Trinitatis Kirchengemeinde in Warschau und Redakteur der Ökumenischen Nachrichtenagentur Ekumenizm.pl