Kaczynskis Tod: Verschwörungsglaube im Netz
Der polnische Präsident Lech Kaczynski ist bei einem tragischen Flugzeugabsturz ums Leben gekommen. Im Internet kursieren bereits die ersten Verschwörungstheorien. Demnach wurde Kaczynski ermordet.
10.04.2010
Von Henrik Schmitz

Es ist beinahe schon ein Ritual. Kaum stirbt eine bekannte Persönlichkeit, entstehen auch schon die ersten Verschwörungstheorien. Dass ein so wichtiger Mensch wie der polnische Präsident Lech Kaczynski bei einem Flugzeugabsturz ums Leben kommt, scheint zu profan. Und so wird aus der Frage nach dem „cui bono?“ (Wem nützt es?) schnell eine eigene Wirklichkeit konstruiert, bei der der Verdacht zur Tatsache mutiert. Ohne Beweise, allein durch Fragen, werden bereits Zweifel an einem "gewöhnlichen Unfall" geweckt.

"Gibt es einen Grund, warum jemand seinen Tod wünschen könnte“, fragt ein anonymer Nutzer des Internetforums http://www.abovetopsecret.com. "Wer wird ihn ersetzen und was bedeutet das für Polen? Und für die Interessen der USA? Ich habe das Wetter im Absturzgebiet überprüft. Es scheint kalt dort zu sein, aber nichts ernsthaftes, nur ein paar Wolken, kein Niederschlag." Ein anderer Nutzer spekuliert "Vielleicht wusste der Mann zu viel über die geheimen CIA-Gefängnisse in Polen" und deutet so an, die USA steckten hinter dem Absturz. Wieder andere Internetnutzer diskutieren darüber, ob die russische Regierung etwas mit dem Unglück zu tun haben könnte. Einmal wegen Kaczynskis deutlicher Orientierung an der NATO, zum anderen, weil er sich auf dem Weg zur Gedenkfeier in Katyn befand, wo vor 70 Jahren rund 4.000 polnische Offiziere auf Befehl Stalins ermordet worden waren. Das Massaker von Katyn gilt als ein wunder Punkt in den Beziehungen Russlands und Polens. Die Führung in Moskau hatte jahrzehntelang versucht, Nazi-Deutschland die Schuld an dem Verbrechen von Katyn in die Schuhe zu schieben. "Die Ironie ist, dass Putin die Untersuchungen zum Absturz leiten wird", merkte ein Nutzer bei Twitter an.

Klassische Muster

Die Verschwörungsvermutungen im Fall Kaczynski zeigen bereits die gängigen Muster anderer Verschwörungstheorien, die viel weniger Theorien als vielmehr Erzählungen sind – mit klar verteilten Rollen. Stets sieht sich etwa der Verschwörungstheoretiker als Aufklärer und Enthüller, der eine Verschwörung aufdeckt und somit zum Helden der Erzählung wird. Er steht für das Gute und bildet den Gegenpol zu den Verschwörern. Diese übernehmen die Funktion des Sündenbockes und zeichnen sich durch Omnipotenz und Skrupellosigkeit aus. Auf die Spur der Verschwörer stoßen die Verschwörungstheoretiker in der Regel durch die Frage nach dem cui bono (Wem nützt es?). Wie nun im Fall Kaczynski, wo wahlweise die russische Regierung (wegen Katyn) oder die USA (wegen des Wissens um CIA-Geheimgefängnisse) als Verschwörer vermutet werden.

Erfolgreich kann eine Verschwörungstheorie dabei allerdings nur sein, wenn sie an bereits geglaubte Einstellungen und Überzeugungen beim Rezipienten anknüpfen kann. Als Täter werden in Verschwörungstheorien daher in der Regel Gruppen genannt, denen die unterstellte Skrupellosigkeit ohnehin schon nachgesagt wird. Neben der US-Regierung sind dies in modernen Verschwörungstheorien daher in der Regel Geheimdienste (CIA, Mossad) oder auch Wirtschaftsunternehmen, die in bestimmen gesellschaftlichen Gruppen ohnehin schon einen schlechten Ruf haben. Verschwörungstheorien, nach denen die Attentate des 11. Septembers von der US-Regierung selbst in Auftrag gegeben wurden, waren beispielsweise vor allem in solchen Ländern und bei Menschen beliebt, die zuvor schon eine sehr kritische Sicht auf die Politik von George W. Bush hatten. Zwar ist die Elvis-lebt-Theorie insgesamt als erfolgreich anzusehen – sie hält sich immerhin seit 1977 - , einzelne „Verästelungen“ dieser Theorie, nach denen Elvis von Außerirdischen entführt wurde, werden hingegen höchstens von solchen Menschen geglaubt, die auch Ufo-Landungen für realistisch halten.

Angst vor dem Unbestimmten

Der Verschwörungstheoretiker folgert stets, dass die Verschwörer ein bestimmtes Ereignis – im Fall Kaczynski der Flugzeugabsturz - systematisch und bewusst herbeigeführt haben. Aus dem Abstrakten, der Ursache für ein Ereignis, wird so eine konkrete Gruppe. Die Angst vor etwas Unbestimmtem wird zu einer Angst vor etwas Bestimmtem und kann daher besser bewältigt werden, da es einen vermeidlich Schuldigen gibt.

Genau dies ist auch ein großer Erfolgsfaktor der Verschwörungstheorie. Sie ist ein Meister der Vereinfachung. Sie bietet über ein historisches Ereignis eine einfache Deutung mit überschaubarem handelndem Personal (Verschwörer, deren Handlanger, Aufklärer), führt ein Ereignis auf eine einzige Ursache – die Verschwörung – zurück und stützt sich auf scheinbar logische Schlussfolgerungen, die in sich bereits Vereinfachungen darstellen. Oft entstehen so Zirkel- oder Fehlschlüsse, wie nun auch im Fall Kaczynski: Der Präsident war Moskau ein Dorn im Auge. Wenn er tot ist, nützt das Moskau. Das Wetter am Flughafen war nicht schlecht. Es muss also eine Verschwörung sein.

Opfer der Überinterpretation

Der Verschwörungstheoretiker wird dabei Opfer eine Überinterpretation. Er geht davon aus, dass es keine Zufälle gibt und sieht überall Anzeichen einer tieferliegenden Wirklichkeit. Ein Beispiel dafür ist auch der sogenannte „umbrella man“, der auf einem Video der Ermordung von US-Präsident John F. Kennedy zu sehen ist und zwei Sekunden vor den Schüssen seinen Regenschirm öffnete. Ein an sich unbedeutendes Ereignis wurde von Verschwörungstheoretikern in eine Signalfunktion für den Schützen umgedeutet. Solche Details, findet nur, wer auch an die Verschwörung glaubt. Aus der Sehnsucht, Zeichen einer Verschwörung zu finden, entstehen diese erst. Der Mensch sieht letztlich nur, was er sehen will oder gelernt hat zu sehen. Man darf gespannt sein, welche "Zeichen" beziehungsweise Beweise Verschwörungstheoretiker im Fall Kaczynski noch anführen werden. Möglich wäre etwa, dass allein die Tatsache, dass Kaczynski in einem Flugzeug russischer Herkunft unterwegs war, als Hinweis auf eine Verstrickung Moskaus in den Absturz gedeutet werden wird.

So lächerlich und konstruiert vielen Verschwörungstheorien erscheinen, so wirkmächtig können sie sein. Schließlich finden Verschwörungstheorien viele Anhänger und werden somit zu einem Faktor der Meinungsbildung – mit zum Teil schwerwiegenden Folgen. Vergleichsweise harmlos ist noch das Beispiel eine Getränkes, das im September 1990 im Nordosten der USA auf den Markt kam und sich in Wohngegenden mit niedrigem Einkommensgruppen zunächst gut verkaufte. Die Tatsache, dass die Angestellten des Herstellers im New Yorker Stadtteil Brooklyn vorwiegend Schwarze waren, verlieh dem Getränk nur noch mehr Anziehungskraft. Anfang 1991 tauchten in schwarzen Wohngebieten dann aber anonyme Pamphlete mit der Warnung auf, das alkoholfreie Getränk sei vom Ku-Klux-Klan produziert und enthalte Stimulantien, um den schwarzen Mann zu sterilisieren. Der Umsatz des Getränks sank um 70 Prozent, da der Verschwörungstheorie Glauben geschenkt wurde.

Die "Protokolle der Weisen von Zion"

Ungleich dramatischer waren die Folgen der "Protokolle der Weisen von Zion", die noch heute im arabischen Raum weit verbreitet sind. Diese Protokolle, die nachweislich gefälscht sind, belegten angeblich das Streben der Juden nach der Weltherrschaft und wurden als Legitimation der Judenverfolgung eingesetzt. Auch die Hexenverbrennungen im Mittelalter gehen letztlich auf eine Verschwörungstheorie zurück. In den Schriften „Formicarius“ (1437) von Johannes Nider (1380-1438) und „Flagellum haeriticorum fascinariorum“ (1458) von Nikolaus Jaquier (gest. 1471) wurde die These vertreten, es existiere eine im Verborgenen wirkende satanistische Hexen-Sekte von Männern und Frauen, die für so ziemlich alles Übel verantwortlich gemacht wurde.

Was den Fall Kaczynski angeht, könnten Verschwörungstheorien durchaus einen Einfluss auf die anstehenden Präsidentenwahlen haben. So könnte das Lager des nun ums Leben gekommenen Präsidenten durchaus Interesse an einer Mordthese haben, um so Stimmung gegen den liberaleren und moskaufreundlicheren Bronek Komorowski zu machen. Würde es gelingen, große Massen von einer Verschwörung gegen Kaczynski zu überzeugen, könnte das Präsidentschaftsrennen sogar wieder offen sein. Verschwörungstheoretiker würden sich dann vielleicht sogar nach einem neuen Verschwörer umsehen. Nach dem Motto: Erst Kaczynskis Tod hat die Wahl wieder offen gemacht. Seine eigenen Leute hatten also ein Interesse an seinem Tod. Sie waren es!


Henrik Schmitz ist Redakteur bei evangelisch.de und betreut die Ressorts Medien und Kultur