Turiner Grabtuch: Im Schweiße Seines Angesichts?
Seit Jahrhunderten diskutieren Theologen, Wissenschaftler und Gläubige über die Frage, ob das Turiner Grabtuch tatsächlich den Abdruck des gekreuzigten Jesus zeigt. Vom 10. April an wird es erstmals seit zehn Jahren wieder für 44 Tage öffentlich ausgestellt, und Tausende Pilger aus aller Welt werden nach Italien reisen, um einen Blick darauf zu erhaschen. Doch die Zweifel an der Echtheit bleiben.
08.04.2010
Von Thomas Östreicher

Die Vorstellung ist faszinierend, selbst für Nicht-Christen: Da existiert ein geradezu fotografisch genaues Ganzkörperbild von Jesus, für immer konserviert per Abdruck auf Leinen. Das Porträt eines langhaarigen, ernst wirkenden Mannes, die verwundeten Hände im Schoß gekreuzt und zugleich ein Zeugnis, dass es Ihn tatsächlich gab - und wie Er aussah.

Seit gut einem halben Jahrtausend besticht diese Idee. Doch fast ebenso lang verderben immer neue Argumente von Skeptikern die ungeteilte Begeisterung für den buchstäblich alten Stoff. Denn ob das 436 mal 110 Zentimeter große Tuch tatsächlich den "nach jüdischer Begräbnissitte" bestatteten Mann aus Nazareth zeigt, wie die Tuchverehrer behaupten, weiß niemand sicher.

Seit 1578 wird das geschichtsträchtige Stück im Turiner Dom aufbewahrt, seit gut 100 Jahren widmen sich Wissenschaftler der Frage, wie authentisch es ist. Inzwischen sammelte sich eine ganze Reihe von Pro- wie Contra-Argumenten an. Schon ob es sich bei den sichtbaren Flecken um Blut oder um Farbe handelt, ist fraglich.

Belege für eine Fälschung

  • Das Tuch zeigt einen 1,81 Meter großen nackten Bartträger frontal von vorn. Somit kann kein Leichnam darin eingewickelt worden sein, denn es fehlt eine Art "kartografische" Verzerrung des Gesichts, Knitterfalten ebenso. Und warum sind keine Ohren zu sehen?
  • Mithilfe der Radiokarbon-Methode datierten drei unabhängige Analysen in Labors der Schweiz, in Großbritannien und den USA die Entstehungszeit des Leichentuchs auf das Mittelalter. Zu eben dieser Zeit wurde es auch erstmals schriftlich erwähnt.
  • Verschiedene Forscher haben in jüngster Zeit mit mehr oder weniger aufwendigen, teils auch schon im Mittelalter verfügbaren Abdruck- und Maltechniken Tücher hergestellt, die dem Turiner Exemplar verblüffend ähneln, wie auf dem rechten Vergleichsfoto zu sehen ist.

Belege für die Echtheit

  • Der Abdruck auf dem Tuch ist womöglich kein "Schweißabdruck", sondern tatsächlich eine Art Fotografie - mittels Linsen und lichtempfindlicher Silbernitrat-Imprägnierung des Stoffs. Das würde vielleicht die Existenz Jesu beweisen, mit Sicherheit aber die eines frühen Chemiker-Genies.
  • Die Stoffprobe, die 1988 datiert wurden, stammten möglicherweise von erst im Mittelalter eingesetzten Flicken. Eine Radiokarbon-Datierung des Rests wurde bislang nicht gestattet.
  • Manche der dargestellten Details wie etwa die Einstichstellen an den Handgelenken und Spuren von einer Auspeitschung entsprechen dem, was erst Historiker neuerer Zeit über Kreuzigungen wissen. Ein Fälscher im 13. oder 14. Jahrhundert hätte dieses Wissen nicht besessen.
  • Die Zickzack-Webart im Fischgrätmuster entspricht vergleichbaren Funden, die mit Sicherheit aus dem ersten Jahrhundert stammen.
  • Botaniker der Hebräischen Universität schließlich wiesen auf dem Tuch Pollen nach, die typisch für die Osterzeit im Raum Jerusalem sind. Distelpollen deuten auf eine Dornenkrone hin.

Wie wichtig ist die Wahrheit?

Unbestritten ist die spirituelle Bedeutung des Turiner Grabtuchs vor allem für konservative Gläubige. Es handele sich um "ein Hilfsangebot", befand der Prälat und Wallfahrtsdirektor Wilhelm Imkamp jetzt in einem Interview mit "Focus". Ein derartiger Gegenstand werde "durch die jahrhundertelange Verehrung zu einem Zeugnis lebendigen Glaubens", so der katholische Kirchenmann.

Heißt das: Wer's glaubt, wird selig? Der Vatikan ist im Umgang mit heiligen Überbleibseln verglichen mit früheren Zeiten weitaus vorsichtiger (und nennt das Turiner Tuch folgerichtig eine Ikone, keine Reliquie). Eine Beglaubigungs-Kommision ist für derlei Fragen zuständig.

Doch die endgültige Klärung der Echtheitsfrage steht offenbar nicht auf der Agenda Roms. "Die geheimnisvolle Faszination des Grabtuchs wirft Fragen über die Beziehung dieses geweihten Leinens zum historischen Leben Jesu auf", äußerte sich Papst Johannes Paul II. 1998 in einer Rede selbst zum Thema. "Da das aber keine Glaubensangelegenheit ist, hat die Kirche keine besondere Befugnis, zu diesen Fragen Stellung zu beziehen."

Diese Einlassung ist fast so rätselhaft wie der Ursprung des Tuchs selbst.


Thomas Östreicher ist freier Journalist in Hamburg und Frankfurt.