Das klingt nicht nach Unterversorgung, trotzdem ist Meyer in Eile. In der Eingangshalle des Heimes reicht es nur für einen kurzen Gruß an die Empfangsdame. Auf "NDR 1 Radio MV" dudelt Howard Carpendale, das Lied heißt "Es geht um mehr". Am Ende des Tages wird Meyer fast in jedem Haus, das er betreten hat, NDR 1 Radio MV gehört haben. Jeder Dritte in Mecklenburg-Vorpommern hört den Sender. Es ist das Format für die ältere Zielgruppe.
Besuch im Altenheim
Eberhard Meyer arbeitet sich von unten nach oben, vom Erdgeschoss bis ins fünfte Stockwerk. Mal riecht es nach Kaffee und kaltem Zigarettenrauch, mal nach Desinfektionsmitteln und Urin. Der Kontakt zu seinen Patienten dauert nur wenige Minuten. "Guten Morgen, liebe Sorgen", Ärmel hochkrempeln, Blutdruck messen, Medikation überprüfen. Aber immer streicht Meyer den Menschen kurz übers Gesicht oder die Hände.
Ein Mann, recht dürr, schlecht rasiert, graue Haare, abgetragener Trainingsanzug, sitzt im Schwesternzimmer und wartet. Jeder Wohnbereich hat so einen Raum, er liegt in der Mitte zwischen zwei parallel verlaufenden Gängen, jeder kann hereinschauen. Als Meyer um die Ecke rauscht, zeigt der Mann aufgeregt auf sein Ohr. "Ja, ich weiß", sagt Meyer. Er schaut in die Ohren. "Ist alles voll, nützt ja nichts." Er holt eine Ohrenspritze mit metallener Spitze aus seiner Tasche und lässt warmes Wasser in eine blaue Schüssel laufen. Eine Schwester legt Papierhandtücher auf Schultern und Nacken des Patienten. Meyer spritzt Wasser in das erste Ohr.
"Kommt was raus?", fragt die Schwester. "Mehr als genug, riechst du das nicht?" Die Schwester stöhnt kurz auf und holt sich Gummihandschuhe. "Und, kannste besser hören?", will die Schwester wissen, als beide Ohren sauber sind. "Ja, jetzt versteh ick dir!" "Dann hörste ja jetzt auch, dass du dich rasieren sollst. Und nicht immer so viel saufen!", sagt die Schwester. Der Mann sieht zu, dass er wegkommt.
Kein Honorar für "Mitbesuch"
Meyer setzt sich an den Schreibtisch, guckt auf seine Armbanduhr. Und schreibt in die Karte, dass er dem Mann die Ohren ausgespült hat. Dann holt er noch eine Karte aus der rollenden Hängeregistratur. "Ich schreibe es in diese Karte, ich schreibe es in die andere Karte!", sagt er genervt und rollt mit den Augen. Für die Ohrenreinigung bekommt er nicht mal Extrahonorar, das fällt unter "Mitbesuch". Dem Mann und dem Gesundheitssystem hat Meyer gerade viel Geld gespart, der nächste Hals-Nasen-Ohren-Arzt sitzt in Neustrelitz, mit dem Taxi macht das 50 Euro.
Jetzt noch Frau Winterburg, dann ist der Landarzt für heute fertig mit den Besuchen im Altenheim. Ob was Besonderes mit ihr ist, will der Arzt von der Schwester wissen. "Nein, eigentlich nicht, sie schimpft nur manchmal fürchterlich auf die Kommunisten." "Mit denen haben so manche Probleme, aber ich nicht", sagt Meyer und blickt herausfordernd auf den Pfleger und die Schwester im Zimmer. Aber niemand sagt etwas.
Im Auto erklärt er, was er damit gemeint hat. Als es die DDR noch gab, konnte er aufschreiben, was er wollte und - vor allem - was die Menschen brauchten. "Aber diese Zeiten sind vorbei, das ist klar." Er trauert ihnen nicht nach. Als Jugendlicher war er in der Kirche aktiv und bekam mit, dass das bei den Machthabern nicht immer gut ankam. Und als nach der Wende die meisten Menschen sich noch wunderten, wie schnell ein Staat verschwinden kann, war Meyer schon weiter.
Antrag auf Niederlassung elf Tage nach Mauerfall
Am 20. November 1989, elf Tage nach dem Mauerfall, stellte er beim Rat des Kreises den Antrag auf eine Niederlassung als Arzt. Seit den Siebzigern hatte er in der Mirower Landambulation gearbeitet, einer Art Ärztehaus. Von 1987 bis Ostern 1989 war er im Ural, als Betriebsarzt beim Pipelinebau. In der Sowjetunion, unter Gorbatschow, spürte er schon länger, dass sich was verändern würde. Als er nach Hause kam, war seine erste Ehe zerbrochen und die DDR am Ende. Zeit für einen Neuanfang. "Mit dem Zulassungsantrag stieß ich erst mal noch auf roten Beton." Meyer ertrotzte sich aber die Genehmigung und eröffnete am 3. Oktober 1990, dem Tag der Einheit, seine erste eigene Praxis.
Damals war er Anfang 40, ein Alter, in dem man die Dinge gestalten will. Fast 20 Jahre später stellt Eberhard Meyer fest, dass er sich etwas mehr vom Westen versprochen hatte, als die letzten zwei Wochen eines Quartals umsonst zu arbeiten. Dann hat er nämlich sein Budget überschritten, sagt er. "Wir sind keine Medizinmänner, wir sind Mangelverwalter."
In Mecklenburg-Vorpommern gibt es etwa 1.100 Hausärzte, einen für 1.500 Einwohner, statistisch gesehen. Die Kassenärztliche Vereinigung, die Interessenvertretung der niedergelassenen Ärzte, warnt vor einer Unterversorgung. Der Mangel an Medizinern sei "dramatisch". Andere sagen: Alles nicht so schlimm. Das Ministerium für Soziales und Gesundheit in Schwerin teilt mit, man könne landesweit über 100 neue Hausärzte zulassen. Dann sei aber die Grenze zur Überversorgung erreicht.
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