Reformatorische Briefe: Die Handschrift des Sternendeuters
Er ist bekannt als rechte Hand Martin Luthers, als "Außenminister der Reformation" und als genialer Theologe und Philologe. Er achtete aber auch auf den Lauf der Gestirne und las die Zukunft in den Händen seiner Freunde. Viel Privates über Philipp Melanchthon (1497-1560), den berühmtesten Gelehrten seiner Zeit, ist seinem Briefwechsel zu entnehmen. In Heidelberg wird er aufwändig ediert.
31.03.2010
Von Ingo Schütz

Der Weg zur "Melanchthon-Forschungsstelle der Heidelberger Akademie der Wissenschaften" führt durch die Heidelberger Altstadt, hinein in die Fußgängern vorbehaltene Heiliggeiststraße. Hinge nicht ein goldenes Schild an der unscheinbaren Pforte, man würde daran vorübergehen. Nichts weist darauf hin, welche Schätze sich in den überschaubaren Räumlichkeiten verbergen.

Drinnen ist, ganz anders als von außen, kaum zu übersehen, wer hier im Mittelpunkt des Interesses steht: Von allzu vielen Wänden blickt doch Melanchthon selbst herab, als ob er die Arbeit an der Edition seiner Briefe persönlich überwachen wolle. Beobachtet fühlen sich die drei Mitarbeiter zum Glück nicht. Aber den Zorn des vor genau 450 Jahren, am 19. April 1560, gestorbenen Theologen hätten sie auch kaum zu fürchten. Dafür ist ihre Arbeit einfach zu gut. Christine Mundhenk, Matthias Dall'Asta und Heidi Hein sind Altphilologen und widmen ihr Schaffen einer kritischen Ausgabe der Melanchthon-Korrespondenz.

Feintuning der reformatorischen Theologie

Der Mann im Mittelpunkt des Interesses wurde 1497 mit dem bürgerlichen Namen Philipp Schwartzerdt in Bretten, einer Stadt nahe Karlsruhe, geboren. Später übertrug sein Mentor und entfernter Verwandter Johannes Reuchlin den Namen, wie zur damaligen Zeit durchaus üblich, ins Griechische. "Schwarz" wurde zu melan, "Erde" zu chthon.

Bekannt ist er vor allem als rechte Hand Martin Luthers, in dessen Schatten er bisweilen wahrgenommen wird. Dabei ist seine Rolle in der Geschichte der Reformation nicht zu unterschätzen. Wo Luther sich mit starken Sprüchen der kirchlichen Obrigkeit widersetzte, nahm sein Kollege das "Feintuning" vor. Als Professor in Wittenberg schrieb er schon in jungen Jahren die "Loci Communes", die "Hauptstücke" christlicher Theologie, die für Theologen noch heute eine wichtige Grundlage ist.

Geschmäht als Leisetreter

Daneben engagierte sich Melanchthon gezwungenermaßen auch politisch - das brachte dem feinsinnigen Gelehrten die Bezeichnung als "Außenminister der Reformation" ein. Nicht immer war er froh über diese Tätigkeit, bei der er die Religion für die Zwecke der Politik vereinnahmt sah. Aber solange Luther mit der Reichsacht belegt war, musste Melanchthon die Sache der Reformation bei den großen Verhandlungen vertreten.

Seine Arbeit auf diesem Feld war geprägt durch Diplomatie und Kompromissbereitschaft. Kritiker werfen ihm darum heute vor, viel von der reformatorischen Botschaft verwässert, Positionen in Verhandlungen aufgegeben zu haben. Aus eigener Sicht hat er aber, gerade im Gegenteil, immer um das Beste gerungen, immer das Maximum herausgeholt. Ein Leisetreter, wie er auch bezeichnet wird, war er eher nicht.

Überlebensgroße Aufgabe

Die Aufgabe, der sich die Forscher in Heidelberg nun stellen, ist kaum fassbar groß: Rund 9.750 Briefe von und an Melanchthon sind erhalten. Die meisten stammen von ihm selbst und wurden gerettet, weil die Adressaten sie aufhoben und später in Bibliotheken integrierten. Briefe, die ihn selbst erreichten, gingen meist durch Nachlässigkeit verloren – darauf weisen seine Anschreiben hin, in denen es sinngemäß schon mal heißt: "Ich wollte dir längst zurückgeschrieben haben, jedoch fand ich deinen Brief nicht mehr ...".

Um diese riesige Zahl an Schriftstücken kritisch zu edieren, wurde das Projekt 1963 von Heinz Scheible ins Leben gerufen. In 30 Bänden sollen die Brieftexte selbst erscheinen, von denen der zwölfte in Kürze erscheint. Gefördert wird die Edition mit Geldern der öffentlichen Hand. Neun Bände mit kurzen Zusammenfassungen und Informationen über Datum, Adressat und Abfassungsort der Briefe - sogenannte Regesten - sowie zwei von vier Bänden des Personenregisters sind bereits erhältlich.

Da die Arbeit an den Texten aufwändig ist, kann jedes Jahr nur ein neuer Band erscheinen. Das Ende des Projektes wird darum für das Jahr 2030 erwartet. 67 Jahre lang hätte die Arbeit dann gedauert, weit mehr als das Arbeitsleben eines Menschen. Der Initiator des Projekts könnte in dem Jahr seinen 100. Geburtstag feiern. Die Frage nach dem Verhältnis von Aufwand und Nutzen liegt da natürlich nahe. Man müsse sie aber in den richtigen Rahmen einordnen, so Dall'Asta. Die fertige kritische Edition werde schließlich auch für die nächsten 100 Jahre halten. Mindestens.

Hang zur Astrologie

Ob man Melanchthon auch persönlich kennenlernt, wenn man tausende seiner Briefe liest? Ja, urteilen Dall"Asta und Mundhenk. Tatsächlich ist die bei der Arbeit zutage tretende Kulturgeschichte mindestens ebenso interessant wie die theologische Ebene der Texte. So lernt man beispielsweise einiges über Melanchthons Faible für Traum- und Sternendeutung. Vielleicht hat er, so Dall'Asta, den Hang zur Astrologie schon in die Wiege gelegt bekommen. Sein Vater habe zur Geburt Philipps ein Horoskop mit genauen Vorhersagen der Zukunft erstellen lassen. Aus diesem gehe unter anderen hervor, dass Melanchthon einen Schiffbruch im baltischen Meer, der heutigen Ostsee, habe erleiden sollen.

Tatsächlich wurde dem jungen, hoch begabten Melanchthon vom großen Humanisten Erasmus von Rotterdam empfohlen, er solle doch im britischen Cambridge studieren. Später wurde er sogar als Professor in der Nachfolge Martin Bucers nach Cambridge berufen. Beide Empfehlungen und Gesuche lehnte er ab, unter direktem Hinweis auf seine Angst, mit dem Schiff nach England zu fahren. Die Furcht vor einem Schiffbruch dehnte das Horoskop auf sein ganzes Leben aus.

"Ganz ernst meine ich das natürlich nicht"

Martin Luther fand es übrigens vollkommen unverständlich, wie dieser kluge Mann so ängstlich den Lauf der Gestirne beobachten konnte. Und auch sein bester Freund Joachim Camerarius war von mancher Marotte befremdet. Camerarius sammelte Briefe Melanchthons an ihn, fügte aber mitunter auch eine Zeile an. Als der Gelehrte ihm brieflich anbot, er könne gerne in der Hand seiner Frau lesen und so feststellen, ob der geplante Hauskauf glücklich verlaufen werde, schrieb der Empfänger in den Text sinngemäß hinein: "Ganz ernst meine ich das natürlich nicht", und tat damit so, als würde Melanchthon sich selbst zurücknehmen.

Langweilig wird den Forschern bei ihrer steten Lektüre der Melanchthonbriefe übrigens nicht. Schließlich sei das Corpus ja abwechslungsreich, so Mundhenk. Von Kanzleinotizen über persönliche Briefe bis hin zur offiziellen Korrespondenz mit dem englischen König Heinrich VIII. sei alles dabei. Auf Heinrich geht die Abspaltung der Anglikanischen von der römisch-katholischen Kirche zurück; bei der Ausgestaltung einer neuen Kirchenordnung hat er sich von den deutschen Reformatoren beraten lassen.

Ob es ihnen leicht falle, die alten Handschriften zu lesen? Trotz des Schreibens in Deutsch, Griechisch und Latein habe man bei Melanchthon speziell keine Probleme, so die Forscher. Viele Altphilologen hätten in dieser Disziplin sogar Kurse im Rahmen des Studiums besucht. Dennoch gebe es bei Melanchthon einige Stolperfallen: Das E und das I sind bei ihm oft kaum zu unterscheiden.

Bewunderung für Schwartzerdt

Ansonsten aber habe der Gelehrte sauber geschrieben – und vor allem groß und mit weiten Zeilenabständen. Nach damaligem Empfinden kam das einer Papierverschwendung gleich. Luther bemerkte einmal, er sei stolz und dankbar, einen so langen Brief wie den seines Freundes in nur einer Viertelstunde gelesen zu haben. Jeder andere hätte das Papier viel enger beschrieben, so dass die Lektüre ungleich länger gedauert haben würde.

Auf die Frage, was die Mitarbeiter der Forschungsstelle an Melanchthon bewundernswert finden, müssen sie eine Weile überlegen. Aber dann fällt Christine Mundhenk doch noch etwas ein: "Seine Beharrlichkeit und seine Ausdauer, mit der er für die Sache der Reformation eingetreten ist. Er schreibt auch einmal, dass er durchaus ein bequemeres Leben hätte führen können. Aber er hat sich dafür entschieden, sein Leben der Reformation zu widmen."

Beharrlichkeit und Ausdauer. Die braucht man wohl auch für das Projekt der Melanchthon-Edition. Wenn sie 2030 abgeschlossen wird, dürfte Dall’Asta gerade noch dabei sein, während Mundhenk dann schon im Ruhestand sein wird. Ein ganzes Leben für Melanchthon? Nein, der sei nur die Arbeit, im Leben jenseits davon komme er wenig vor. Schließlich habe er auch, anders als Luther, keine Trinksprüche hinterlassen, die man in der Kneipe zitieren könne. Abends, nach der Arbeit, geht es nach Hause, und Melanchthon bleibt in Heidelberg. Dall'Asta übrigens wohnt privat in Bretten. In der Geburtsstadt Melanchthons. Aber das ist natürlich nur Zufall. Oder waren es doch die Sterne?


Ingo Schütz ist Theologe und absolviert ein Praktikum bei evangelisch.de. Von Melanchthon hat er sich gleich nach dem Besuch in der Forschungsstelle einige Bücher bestellt.