Jahrzehntelang hat sie mit wissenschaftlichen Methoden das Fühlen und Denken der Deutschen durchleuchtet. Selbst dem Glück wollte die Sozialforscherin auf die Spur kommen. "Glück muss ich messen können", sagte sie einmal. Das erste deutsche Meinungsforschungsinstitut hatte sie 1947 zusammen mit ihrem Mann, dem CDU-Abgeordneten und Journalisten Erich Peter Neumann, in dem Bodensee-Städtchen Allensbach gegründet.
Das war nicht ohne Widerstand abgegangen. Der neuen wissenschaftlichen Disziplin schlug zuerst nur Ablehnung entgegen. "Wir wurden ausgelacht", berichtete sie über den schwierigen Beginn. Ohnehin hat sie sich stets als Außenseiterin gefühlt. "Wissenschaftler müssen - genau wie Künstler - unbedingt ertragen können, Außenseiter zu sein", sagte sie. Ein Wissenschaftler war auch ihr zweiter Mann. Der Kernphysiker Heinz Maier-Leibnitz starb im Dezember 2000. Seit seinem Tod verwendete sie nur noch ihren Mädchennamen Noelle.
Meinungsforschung seit der Nazi-Zeit
Mit ihrem Lebensthema war Noelle-Neumann erstmals 1937/38 während eines Studienaufenthalts in den USA in Kontakt gekommen. 1916 in Berlin geboren, hatte sie zunächst Philosophie, Geschichte und Zeitungswissenschaften studiert. Zurück in Deutschland machte sie die Untersuchung der öffentlichen Meinung zum Thema ihrer Doktorarbeit ("Meinungs- und Massenforschung in den USA"). Darauf folgte eine Karriere als Journalistin in der Nazi-Zeit. 1964 wurde sie als Professorin an die Universität Mainz berufen, wo sie sich der Aufbruchstimmung der '68er Jahre widersetzte.
Im Laufe der Jahrzehnte hat Allensbach Millionen von Menschen in Deutschland befragt. Die repräsentativen Umfragen betreffen alle Bereiche von Politik über Wirtschaft bis zu Konsum, Kultur und Religion. Die Demoskopen haben die Lebenseinstellung der Deutschen, ihre Hoffnungen und Ängste, Vorlieben und Abneigungen unter die Lupe genommen. 95 feste Mitarbeiter und rund 2.000 nebenberufliche Interviewer sind heute für das Institut tätig, dessen Leitung sich Noelle-Neumann von 1988 an mit Renate Köcher geteilt hatte. Um die Zukunft als unabhängiges, wissenschaftliches Institut zu sichern, wurde es 1996 in eine gemeinnützige Stiftung eingebracht.
2005 wie alle anderen bei der Wahl versagt
Einen besonderen Namen hat sich Allensbach mit der politischen Meinungsforschung gemacht. Seit 1957 veröffentlicht das Institut am Tag vor wichtigen Wahlen Prognosen, die jahrzehntelang kaum vom Endergebnis abwichen. Doch seit der Bundestagswahl im September 2005 ist das Umfragewesen in eine tiefe Krise geraten. Nicht nur Allensbach, auch andere Meinungsforschungsinstitute hatten einen klaren Sieg für ein schwarz-gelbes Regierungsbündnis vorhergesagt. Die Union verfehlte jedoch ihr Ziel gründlich und musste mit der SPD koalieren. Die Demoskopen erklärten ihre Schlappe mit der Abneigung des Wählers, sich in die Karten schauen zu lassen, und mit der schwindenden Parteienbindung.
Gegen ihr Image als "Haus-Demoskopin" der CDU hat sich Noelle-Neumann stets gewehrt. 95 Prozent aller Umfragen im Auftrag der CDU seien von anderen Instituten erstellt worden, behauptete sie. Ex-Kanzler Helmut Kohl (CDU) gehörte zu ihren engsten Freunden, die konservative "Frankfurter Allgemeine Zeitung" (FAZ) war ihr "Hausblatt", in dem sie vorzugsweise veröffentlichte.
Für ihre Arbeit hat Noelle-Neumann zahlreiche Auszeichnungen erhalten. Seit 1976 war sie außerdem Ehrenbürgerin von Allensbach, wo sie in einer kleinen Villa mit traumhaftem Seeblick jahrzehntelang wohnte.