Nur ein paar Busminuten von den berühmten Stränden Copacabana und Ipanema liegt das größte Armenviertel Brasiliens: die Rocinha. Etwa 85.000 Menschen leben hier. Die meisten verdienen um die 140 Euro im Monat und können sich keine andere Wohngegend leisten. Das Gesetz in der Rocinha machen, wie in den meisten Favelas, die Drogenbosse, die alle einer bestimmten Bande angehören, den so genannten "comandos". In der Rocinha heißt das comando "ADA" - "amigos dos amigos", Freunde der Freunde.
Häufig kommt es zu Machtkämpfen zwischen den Banden, Schießereien, denen auch Unschuldige oder Kinder zum Opfer fallen. Deshalb ist das Leben dort gefährlich. Auch weil man nie weiß, wann die Polizei einmarschiert und das Feuer mit den "traficantes", den Drogendealern, eröffnet. Die Rocinha macht ein Vermögen mit dem Verkauf von Drogen. Der oberste Drogenboss, der auch als "dono", also Besitzer der Favela bezeichnet wird, ist stets in Begleitung von mehreren Dutzend, bis an die Zähne bewaffneten Soldaten, die ihm Schutz bieten, im Falle eines Angriffs.
Abenteuertourismus in die Favelas
Es ist neun Uhr morgens. Alfredo parkt seinen kleinen VW-Bus vor dem Marriot an der Avenida Atlantica in Copacabana, wo sich ein Sterne-Hotel an das nächste reiht. Im Minutentakt fahren hier die Tourbusse vor und holen die frischgestylten Touristen aus den eleganten Hotellobbys zu Ausflügen aller Art ab. Alfredo ist Fremdenführer für eine Favelatour. Argentinier, Japaner und Amerikaner warten in seinem Bus schon ungeduldig auf ihr Abenteuer. Abseits der Sandstrände, des Karnevals, des Zuckerhuts und der Christus-Statue hat sich in Rio de Janeiro in den vergangenen Jahren eine neue Art des Tourismus entwickelt. Er begeistert alle Altersklassen, vom Unternehmer bis zum Backpacker: Mit einem Führer wie Alberto können die Urlauber eine richtige Favela besuchen.
Gefährlich? Alfredo sagt nein. "Macht euch keine Sorgen, wäre es nicht sicher, würde ich euch nicht dahinführen. You just need to relax and enjoy the tour", beruhigt er die Touristen. Dann erbost sich Alfredo, dass die Medien immer nur schlecht über die Favelas berichteten. Er möchte gerne die andere Seite der Favela zeigen. Dort gelebt hat er allerdings selbst nie. Auf der Fahrt zur Rocinha spricht Alberto lange über Bildung und wie schlecht die Favela dazu Zugang hat - und natürlich über das Drogengeschäft und die Gewalt.
Auch der 25-jährige Jian Wie Por aus Singapur und seine drei Freunde haben pro Person umgerechnet fast 45 Dollar bezahlt, um sich drei Stunden lang das Elend der 85.000 Bewohner in der Favela Rocinha anzusehen. "Um die andere Seite Brasiliens kennenzulernen", antwortet er auf die Frage, warum er diese Tour mitmacht, die Standardantwort der Favela-Touristen. Doch er gibt zu, dass auch der Nervenkitzel und das Abenteuer eine Rolle spielen. Nur eine Woche sind die vier in Lateinamerika, morgen geht es weiter Richtung Argentinien zu den Iguazú-Wasserfällen. Die Sehenswürdigkeiten in Rio haben sie gestern abgeklappert und sind jetzt gespannt auf die Favela, die sie unbedingt mit im Programm haben wollten.
Die Leute sind an die Touristen schon gewöhnt
Vorbei an meterhohen beißend stinkenden Müllbergen fährt der kleine VW Bus mitten hinein in die Favela Rocinha und hält an einem Hang an. Alfredo erlaubt sogar, Fotos zu schießen. "Nur bitte keine Menschen in den Fokus nehmen, die Häuser und Landschaften könnt ihr fotografieren" erklärt er die Regeln. Jian und seine Freunde fotografieren wie wild alles, was ihnen vor die Linse kommt und haben den netten Souvenirstand ganz übersehen, der direkt neben dem parkenden Tourbus aufgebaut ist. Taschen und T-Shirts mit Rocinha-Aufdruck und allerlei Krimskrams gibt es zu kaufen, die Preise übertreffen allerdings die an der Copacabana.
Die Touri-Gruppe betritt eine Bar. Ein Jugendlicher, etwa in Jians Alter, spielt dort an einem Flipperautomat. Die Touristen, die um ihn herum Fotos knipsen, scheint er gar nicht wahr zu nehmen. Seine Augen sind gerötet. Er trägt eine Badeshort, ein weißes zerlöchertes T-shirt und blaue Badelatschen. Am Hals hat er eine Wunde, die nach einem vernarbten Messerschnitt aussieht. Auch Gleidy ist hier, selbst eine Bewohnerin der Rocinha. Nur auf Nachfragen hin antwortet sie: "Alle Touristen sind hier willkommen, die können ruhig Fotos machen. Ich hab noch nie jemanden gehört, der sich darüber beschwert hat oder sich belästigt fühlt."
Die große Masse der Bewohner scheint so sehr an die Favelatouristen gewohnt zu sein, dass sie diese überhaupt nicht bemerken. Kaum einer würdigt die Gruppe eines Blickes. Dann geht es mit dem Minibus weiter in die Favela hinein. Die lateinamerikanische Weltbank hat viel Geld in Favela-Projekte investiert, auch die Rocinha profitiert davon. Immer wieder verweist Alfredo auf die gut funktionierende Infrastruktur der Rocinha und ihre schönen neuen Gebäude: "Schauen sie dort das Reisebüro und hier die Kinderkrippe!"
"Die Favela ist so anders, als ich dachte"
Heute ist sogar die Stromlieferung zumeist legal. Früher zapften die Bewohner einfach die Leitungen an. Es gibt fließendes Wasser, eine Kanalisation, Schulen, Geschäfte, Radiosender und sogar einen McDonalds. "Hier werdet ihr nicht überfallen. Dafür sorgen die Drogenbosse. Sie halten hier die Ordnung in der Favela. Hier ist es sicherer als in der Copacabana!" erzählt Alfredo seinen Touristen: "In der Rocinha gibt es drei Banken und keine von ihnen wurde je ausgeraubt." Am so genannten " boca de fumo", dem Drogenumschlagsplatz, führt er die Touristen nicht vorbei.
Dafür hält der VW-Bus an der Veranda eines Wohnhauses, von wo die Urlauber die wunderschöne Aussicht genießen und noch ein paar Geschichten von den Kindersoldaten zu hören bekommen, die für die Drogenbosse arbeiten. "Mit 14 Jahren tragen sie eine Waffe, mit 18 sind viele schon tot", erklärt Alfredo. Als Highlight gehen die Touristen dann ein Stück zu Fuß durch die belebten Straßen der Rocinha. Entlang der Hauptstraße führen überall enge steile Treppchen und verwinkelte Gässchen aus Beton durch den morro (Hügel) wie die Armenviertel auch genannt werden, weil sie sich an den Hanglagen Rio de Janeiros angesiedelt haben.
Dass sie mit dieser Tour irgendwie voyeuristisch in die Privatsphäre der Bewohner eindringen, störte auch ein amerikanisches Ehepaar aus Minnesota anfänglich. "Aber ich wollte es einfach mal sehen", gesteht die Amerikanerin. "Das mit den kleinen Jungen, die schon so schnell am Drogengeschäft teilhaben, das hat mir das Herz gebrochen", sagt sie und verzieht das Gesicht zu einer traurigen Grimasse. Am Anfang seien sie und ihr Mann etwas ängstlich gewesen, aber jetzt fühlten sie sich sicher. "Das ist wirklich Wahnsinn, die Favela ist ganz anders als ich dachte. Auch so organisiert", erklärt der Mann aus Minnesota. In ihrem Land haben sie sich allerdings noch kein Ghetto angeschaut.
Vom Urlaub in der Nachbarschaft profitiert nicht nur die Pension
Der letzte Stopp ist die Favela Vila Canoas, in der sich das Schulprojekt "Parati" befindet, das die Tour-Organisatoren finanziell unterstützen und das den hohen Preis der Favelatour rechtfertigten soll. In Wirklichkeit fließt aber nur ein geringer Teil der Einnahmen in die Schule, denn vom Rest müssen die Drogenbosse und Anwohner bezahlt werden, auf deren Anwesen die Touristen während der Tour geführt werden. Trotzdem kann der Chef der Favelatours, Marcelo Armstrong, nicht klagen. Seine Touren sind gut besucht und international bekannt. In Rio gibt es neben ihm niemanden, der seine Favelatouren so professionell vermarktet. Sucht man eine Alternative zu ihm, sucht man lange.
Ein paar Kilometer weiter in Richtung Zentrum, versteckt zwischen den Stadtteilen Laranjeras und Santa Teresa, liegt die kleine Favela Perreira da Silva. Hier führt die Brasilianerin Andrea da Silva Martins zusammen mit ihrem deutschen Exfreund Holger Zimmermann die "Pousada Favelhina", eine Art Ferienpension. Die Pousada ist liebevoll eingerichtet. Die Wände sind in einem warmen Hellorange gestrichen und überall hängen Mobiles aus kleinen Steinen, Samen und Muscheln von der Decke. Die Möbel sind aus dunklem Holz. Alles ist sehr einfach. Auf dem Boden in der Küche liegen Fleisch und Knochenstücke für die Hunde herum. Mücken surren. Das Kaffeeservice für die Gäste besteht aus verschiedenen Tassen und Tellern. Auf dem Herd stehen Aluminiumtöpfe mit Haferbrei vom Vortag.
"Ich will hier keinen großen Touristenansturm. Ich hab' ja damals, als wir 2004 die Pousada eröffnet haben, bewusst etwas anderes kreieren wollen", erklärt Andrea die in ihrem Strandkleid barfuß in der Küche hantiert. "Und die Pousada ist gut für die Favela, die Bewohner profitieren von uns", ergänzt Holger, während er eine Melone in Scheiben schneidet: "Der Bäcker, der jeden Morgen die Brötchen bringt, die Handarbeiter, die uns immer wieder beim Bau helfen, die Bar- und Restaurantbesitzer, zu denen wir unsere Touristen schicken. Naja, und wir kaufen ja schließlich auch jeden Tag in den Läden hier ein." Von ihrer Dachterrasse aus hat man einen der schönsten Ausblicke Rios auf das Meer und den Zuckerhut, für den man in einem Hotel ein Vermögen zahlen würde.
Ein Beispiel für die Aufräumpolitik der Polizei
Draußen riecht es nach frisch gewaschener Wäsche, die die Frauen der Favela überall auf den Terrassen und Hauseingängen zum Trockenen aufgehängt haben. Dazwischen steigt hin und wieder ein gammeliger, feuchter Geruch nach Kloake auf. Die meisten Haustüren stehen offen. Hier und da liegt ein dösender Hund im Eingang oder auf den Treppenstufen. Kinder sitzen vor Fernsehern und schauen sich Trickfilme an. Gelegentlich kräht ein Hahn und Grillen zirpen, sonst ist es still. Ein friedlicher Samstagmorgen. Das war hier nicht immer so: Erst seit dem Jahr 2000 ist die Favela Perreira da Silva frei von Drogen und Kriminalität. So gut wie niemand ist hier bewaffnet, denn die Spezialeinheit der Polizei, die so genannte Bope, hat sich nur wenige hundert Meter von der Favela angesiedelt. Mit dieser Taktik will Rio bis zu den Olympischen Spielen 2016 die Favelas im Griff haben.
Mit verschlafenem Blick stellt Steve ein leeres Caipirinha-Glas auf den steinernen Tresen. "Bom Dia" ruft er in die offene Küche. Steve ist 24 und studiert in Berlin Stadtplanung. Er und sein Freund Michel haben es sich ausgesucht, während ihres zweiwöchigen Urlaubs in Rio de Janeiro ausgerechnet in einer Favela zu wohnen. "Das Leben in der Favela ist nun einmal ein Aspekt von Brasilien. Wenn ich ein Land bereise, dann will ich es in allen Aspekten kennenlernen und nicht nur in einem", erklärt Steve. Geschockt war er in keinem Moment, denn über die Infos auf der Internetseite der Pension "Favelinha" wusste er schon vorher, was ihn erwarten würde. Sie haben keine Angst hier. Im Gegenteil, sie fühlen sich oft sogar sicherer in der Favela als "draußen". "Im Ausgehviertel Lapa wurden wir sogar schon überfallen, in der Favela ist uns noch nie etwas passiert", erzählt der 30-jährige Michel und schmiert sich Guavengelee auf sein Butterbrot.
Brasilianer machen um die Favelas einen großen Bogen
Abgesehen von der Sicherheit und dem günstigen Übernachtungspreis (rund 21 Euro pro Doppelzimmer mit Frühstück) gibt es für Michel aber auch einen moralischen Grund, im Armenviertel Urlaub zu machen: "In Brasilien gibt es unterschiedliche Wege, wie man mit den Favelas umgeht. Zum einen versucht die Polizei auf brutalste Art dort aufzuräumen. Andere Wege sind soziale Projekte, wie auch zum Beispiel die 'Favelinha'." Eigentlich ist ihm die Pension sogar noch etwas zu touristisch, er hätte es gern noch authentischer. "Jeder hier in der Favela weiß, wir sind die Touris von der Pousada. Ich wäre irgendwie gerne noch mehr integriert", erklärt der Student. Eine Favelatour kommt für die beiden jedenfalls nicht infrage. Alleine die Vorstellung finden sie schon absurd.
Eines haben die "Pousada Favelinha" und die "Favelatour" allerdings gemeinsam: Brasilianer besuchen sie nicht. Die Einwohner Rios, vor allem die der Mittel- und Oberschicht, machen um die Favelas einen großen Bogen. Ihnen wäre am liebsten, die Touristen täten es ihnen gleich, denn sie haben Angst, die Armenviertel könnten Brasilien in ein schlechtes Licht rücken oder gar die Touristen in Gefahr bringen. Denn noch immer hat Rio de Janeiro die höchste Mordrate des Landes. Vor den Olympischen Spielen 2016 ist am Zuckerhut noch einiges zu tun.
Kathi Haid ist freie Autorin und zur Zeit in Brasilien unterwegs.