Wolfgang Wagner hat Löcher in der Hose und umarmt mich
Bayreuth trauert um Wolfgang Wagner. Der Regisseur Christoph Schlingensief hat den langjährigen Festspielleiter, der am Sonntag im Alter von 90 Jahren starb, bei den Arbeiten zum "Parsifal" 2004 kennengelernt. Hier sein Nachruf. Schlingensief veröffentlichte ihn am Montag in seinem Blog. "Heute fragen viele nach einem Statement", heißt es dort einleitend. "Deshalb diese kleine Geschichte."
22.03.2010
Von Christoph Schlingensief

Das letzte Mal sah ich Wolfgang Wagner bei der Trauerfeier von Gudrun Wagner. Das war sehr traurig und sehr anrührend wie er da saß … Das letzte Mal gesehen und auch gesprochen habe ich ihn im letzten Jahr von "Parsifal" kurz vor Eröffnung der Festspiele 2007. Es gab da damals diesen kleinen Konferenzsaal, in dem die Königsfamilie Wagner in den Pausen gerne einige Auserwählte zu einem kleinen Plausch einlud. Und in diesem Raum fanden auch die Sitzungen für neue, aber auch laufende Produktionen statt. Da müssen also alle mal gesessen haben. Jedenfalls in den letzten 20 Jahren.

Zu Beginn der Besprechungen zum "Parsifal" bekamen wir großartige Schnittchen mit Lachs, Leberwurst vom feinsten, hervorragende Fleischwaren, Getränke rund um den Globus und sogar zum Kaffee noch hervorragende Pralinen oder Kuchenstücke, die ihres gleichen suchten. Im Verlaufe der Produktion stürzten wir aber ab und saßen bereits im zweiten Jahr nur noch mit einer von jenen Keksdosen am Konferenztisch, die man normalerweise von schlecht sehenden Großtanten kennt. Irgendwelche zerbrochenen, ausgetrockneten Plätzchen mit leicht grauer Schokoladenfüllung oder merkwürdigem Käsegeschmack.

In Gudruns Gunst abgestürzt

Diese Reduzierung aufs Mindeste hatte nicht nur mit der finanziellen Situation zu tun, die auch bewirkte, dass mir jedes Jahr schriftlich mitgeteilt wurde, dass nur 1.000 Euro für Kostüm- oder Bühnenänderungen zur Verfügung stünden, sondern vor allem mit der dadurch sinnfällig werdenden Tatsache, dass man in der Gunst von Gudrun extrem abgestürzt war. Aber auch das war egal, weil es ja um die Arbeit ging und nicht um irgendwelche Schnittchen.

Und genau diese Arbeit, und das möchte ich an dieser Stelle ausdrücklich noch einmal wiederholen, weil es noch immer irgendwelche Hofschranzen gibt, die behaupten, ich wäre undankbar und wolle Bayreuth nur noch schlechtreden, weil sie damit ihre Chance wittern, irgendwann zum inneren Zirkel des großen Wagnerkuchens zu gehören, überhaupt nicht verstanden haben beziehungsweise eben immer nur Informationen aus zweiter Hand haben; denn die Arbeit in Bayreuth war, egal wie groß der Stress und die Gehässigkeiten, die Verachtung und der Widerwille an diesem Ort geschürt wurden, für mich die größte Freude, die man mir jemals bereitet hat.

Liebhaber Furtwängler in Lebensgefahr

Die Momente, über die so viele Gerüchte kursieren, einmal live erlebt zu haben, ist eine Belohnung, die ich nicht missen möchte. Was war das für eine helle Freude, wenn Wolfgang Wagner selbst gegen den Willen seiner Frau mit mir Kontakt aufnahm, um dann ganz großartige Geschichten über die Wollunterhose von Winnie zu berichten oder über Furtwängler, der fast vom Mähdrescher auf der Judenwiese bei dem Versuch ein weiteres Blumenmädchen zu verführen, überrollt worden wäre.

Da lachte Wolfgang, da blitzten seine Augen. Oder wenn er erzählte, wie er es schaffte, Gelder vom Marshallplan so umzuleiten, dass sie in der Bayreuther Scheune landeten. Der Mann war ein Schlitzohr und das genoss er jede Stunde! Immer wieder tauchte er auf – nicht nur bei mir - und sagte: "Machen Sie doch, was Sie wollen. Sie haben künstlerische Freiheit! Das interessiert mich nicht mehr!"

"Machen Sie doch, was Sie wollen"

Ich weiß noch, wie er vor der ersten Probe im zweiten Jahr auf die Probebühne kam und schrie: "Was soll das? Ist jetzt schon schlechter als im letzten Jahr!" Da hörte man ihn in seinem tiefsten Inneren regelrecht gröhlen. Denn er liebte seine Kommentare, seine Geschichten, seine Auf- und Abtritte. Wenn er dann die große Bühne "endgültig" verließ und schrie, dass es auch der letzte in der letzten Reihe hören konnte: "Machen Sie doch, was Sie wollen. Das interessiert mich nicht mehr!", so saß er schon zwei Minuten später wieder auf seinem eigenen Inspizientenstuhl auf der linken Seite (vom Zuschauerraum aus gesehen) oder er marschierte gleich zu Gudrun, die in ihrem Zimmer sämtliche Überwachungskameras oder Abhörmikrophone bedienen konnte.

Es war wirklich viel los in diesem kleinen Königshaus, was nicht mit Geld zu bezahlen ist. Und wenn ich dann lese, ich würde die Hand meines Arbeitgebers schlagen oder so was ... dann lache ich noch lauter als Wolfgang, denn zum einen lebe und arbeite ich mittlerweile woanders und zum anderen war die Zeit mit Wolfgang so ziemlich das Tollste, was ich überhaupt je auf einer Bühne erlebt habe. Alleine in den ersten zwei Jahren Pierre Boulez erleben und von ihm lernen zu dürfen, dann zu sehen, was passiert, wenn der neue "Parsifal"-Sänger plötzlich anfängt zu leben, ein wirklicher Mensch zu sein, oder im dritten Jahr zu lernen, wie einige Sänger nicht mehr über eine Verlängerung informiert wurden, weil sie sich kritisch über das Haus geäußert hatten und deshalb plötzlich umbesetzt wurden… das waren Sternstunden der Musikausbildung!

Die Kraft in der Scheune

Und das tollste war Wolfgang, der zwar im dritten Jahr stark vernachlässigt mit Löchern in der Hose durchs Haus stolperte bis sich dann Katharina (im Bild hinten) für ihren Vater einsetzte und dafür sorgte, dass er nicht jeden zweiten Tag die Treppe runterfiel, wenn er immer wieder durch "sein Haus" und somit "sein Werk" schritt! Ja, so muss ich es sagen. Bei allen Alterserscheinungen fand er immer wieder Kraft in seiner Scheune, in seinen Probenräumen, den Konferenzen, den kleinen und großen Kriegen. Wolfgang war wirklich Bayreuth!

Und über Gudrun muss ich ja nichts schreiben. Aber Wolfgang hat mich sehr beeindruckt, und nach vier Jahren, als dann auch der eine Sänger nicht mehr mit am Tisch essen durfte und unser "Parsifal" mittlerweile mehr als positiv denn als negativ für die Entwicklung Bayreuths eingestuft wurde, (worüber nicht nur ich mich gefreut habe, sondern auch Wolfgang und Katharina), da war der Laden schon wieder ein bisschen weicher geworden. Da war es teilweise sogar richtig angenehm.

Er war sein bester Gast

Und da endet dann auch meine kleine Geschichte über die "Parsifal"-Zeit in Bayreuth. Wir saßen wieder in diesem verwanzten Konferenzzimmer… und diesmal wurden wir mit Tramezzinis der allerbesten Art überschüttet. Wolfgang und ich saßen uns gegenüber. Gudrun links, mein Team rechts und links an meiner Seite. Und Wolfgang und ich haben vor lauter Glück, dass kein männlicher Intrigant mehr am Tisch saß, sondern plötzlich so ein kleiner Frieden eintrat, unzählige dieser Toastdinger in uns reingestopft. Es brach sozusagen ein großer gemeinsamer Hunger aus. Ein Hochgenuss sozusagen, bis Gudrun dann irgendwann sagte: "Wolfgang, du bist mal wieder dein bester Gast!", und da hörte Wolfang Wagner auf zu essen, wischte sich den Mund ab, stand auf, deutete mir an, dass er mich vorne an der Türe sehen wollte…

... ich folgte ihm und dort, bei geöffneter Türe wohlgemerkt, sagte er zu mir: "Gell, das war schon toll! Das war eine tolle Sache mit uns. Wir waren doch immer Freunde, nicht wahr?" - Und da habe ich "Ja, Herr Wagner" gemurmelt und musste fast heulen. Wir haben uns sogar kurz in den Arm genommen. Kurz, aber herzlich, und ich bin dann wie benommen davongegangen. Ob die anderen noch weiter gegessen haben, weiß ich nicht mehr … und ich rufe dem alten Herren zu: AUF WIEDERSEHEN! Das ist für alle Menschen die schönste Drohung, die man so aussprechen kann. Und in diesem Falle wäre es sogar eine sehr schöne Drohung, auch wenn die Hofschranzen daraus wieder etwas Böses lesen wollen. Ich mag Bayreuth und ich bin sehr gespannt, was daraus werden wird. Auch wenn die Zeichen momentan eher auf Keksdose stehen!


Christoph Schlingensief (49), geboren in Oberhausen, ist als Film-, Theater- und Opernregisseur sowie als Konzeptkünstler tätig. Mit seiner Bayreuther "Parsifal"-Inszenierung (2004-2007) löste er heftige Kontroversen aus. Zurzeit arbeitet Schlingensief, der über seine Krebserkrankung ein vielbeachtetes Buch schrieb, an dem Projekt "Festspielhaus Afrika" in Burkina Faso.