Historiker: Hohe Dunkelziffer bei Gewalt in Heimen
In deutschen Behinderten-Heimen hat es Forschungen zufolge in der Vergangenheit weitaus mehr Fälle von Missbrauch und Gewalt gegeben als bislang bekannt. "Die Geschichte der Behindertenhilfe wurde in Deutschland stiefmütterlich behandelt und ist deswegen immer noch eine 'Black Box'", sagte der Bielefelder Historiker Hans-Walter Schmuhl in einem Gespräch mit der Deutschen Presse-Agentur dpa.

"Gewalt und Missbrauch hat es in allen Heimen gegeben, unabhängig von der Trägerschaft. Da gibt es eine große Dunkelziffer", sagte Historiker Schmuhl, der die Geschichte des evangelischen Johanna-Helenen- Heims für körperbehinderte Kinder in Wetter im Ruhrgebiet aufgearbeitet hat. In Deutschland sind seit Ende Januar zahlreiche Fälle von körperlicher und psychischer Gewalt sowie sexuellem Missbrauch in kirchlichen Einrichtungen ans Licht gekommen. Die nun abgeschlossene Studie sei die erste zur Vergangenheit eines Behinderten-Heims in Deutschland. In den 50er und 60er Jahren seien dort mehr als 200 Kinder körperlich und psychisch misshandelt worden. Später habe es auch einen Fall von sexuellem Missbrauch gegeben - der Täter ist danach verurteilt worden.

"In diesem Heim waren die Verhältnisse extrem, aber es war kein Einzelfall," so Schmuhl. Die vom Träger des Heims, der evangelischen Stiftung Volmarstein, in Auftrag gegebene Studie ist Anfang März erschienen. Die Stiftung hatte sich bereits im vergangenen Jahr bei den Opfern entschuldigt, als erste Ergebnisse der Studie bekanntwurden.

Großes Interesse an Aufarbeitung in anderen Heimen

Viele andere Heime seien nun ebenfalls daran interessiert, ihre Vergangenheit aufzuarbeiten, sagte Schmuhl: "Ich bekomme viele Anfragen, wie man die Aufarbeitung methodisch machen kann. Man merkt, dass da etwas in Bewegung geraten ist." Der Professor für Neuere Geschichte an der Universität Bielefeld rät den Heimen jedoch dringend, nur Fachleute mit der Aufarbeitung zu betrauen.

"Ich sehe momentan vieles mit großer Skepsis, was an die Öffentlichkeit kommt. Häufig glauben unberufene Menschen, sie könnten mit Quellen umgehen. Aber wenn die Missstände nur aufgelistet werden und man das dann als ungeheuerlich stehenlässt, ist das unbefriedigend für alle Beteiligten." Schmuhl hatte als ein Ergebnis seiner Studie die Ernennung von Vertrauenspersonen in den Heimen angeregt, dies könnten frühere Opfer sein. Die Heime müssten "Frühwarnsysteme" gegen Gewalt und Missbrauch schaffen.

Die Studie ist im Verlag für Regionalgeschichte in Buchform erschienen (Hans-Walter Schmuhl/Ulrike Winkler: Gewalt in der Körperbehindertenhilfe. Das Johanna-Helenen-Heim in Volmarstein von 1947-1967). Eine der Stellen, an denen Quellen für das Buch gesammelt wurden, ist die Homepage der Freien Arbeitsgruppe Johanna-Helenen-Heim, wo Betroffene ihre Erinnerungen dokumentiert haben.

dpa