evangelisch.de: "Spiegel" und "Süddeutsche Zeitung" machten den Auftakt - plötzlich reden alle davon, dass sich Bundespräsident Horst Köhler viel zuwenig in aktuellen Fragen zu Wort meldet. Wie entstehen solche Themenkarrieren, welchem Zweck dienen sie?
Ernst Elitz: Ehre wem Ehre gebührt. Die ersten, die gefragt haben "Wo ist Super-Horst?" waren die Kollegen von "Bild". Die anderen legten tagelang dreispaltig nach. Themen, die solche Karriere machen, entspringen nicht der Laune einzelner Journalisten. Journalisten nehmen Stimmungen auf, und sie plaudern in der Hauptstadt ständig mit Politikern aller Couleur. Und die vermissten schon ein Wort des Bundespräsidenten zur aktuellen Lage, wenn auch aus ganz eigennützigen Motiven. Die SPD hätte es gern gesehen, wenn das Staatsoberhaupt die Hartz-IV-Fahne geschwenkt hätte. Die CDU erwartete sich prophylaktisch Unterstützung für Schäubles radikalen Sparkurs. Und die FDP hätte es gern gesehen, wenn der Ex-Banker Köhler für Steuersenkungen zum Wohl des gebeutelten Mittelstands plädiert. Aber der Bundespräsident ist kein Sprechautomat, den man nach Belieben einschalten kann, um die gewünschte Platte zu hören. Inzwischen aber gibt es ein Thema, mit dem der Bundespräsident das Herz des Volkes erreichen und den Parteien ordentlich die Leviten lesen könnte: Es ist ungehörig, wie jeder Klein-Politiker meint, er könne das Staatsoberhaupt bemäkeln. Es stört den gesellschaftlichen Frieden, wenn der SPD-Vorsitzende Unternehmer, die ihm nicht passen, als "Lumpenelite" beschimpft. Es ist beleidigend, wenn ein FDP-Minister aus dem hohen Norden öffentlich kundtut, den Politiker in Berlin drohe das Schicksal, zu Sauf- und Hurenböcken zu werden. Und es sagt alles über den Zustand der politischen Klasse, wenn der CSU-Generalsekretär noch eins drauf setzt, und vermutet, der ausgerastete Liberale hätte die Schweinegrippe im Kopf. Es wäre Zeit für eine Köhler-Rede zum Thema "Wie die politische Klasse sich selbst zerstört und jedes Vertrauen verspielt."
evangelisch.de: Erst verkürzte Schwarz-Gelb Wehr- und Zivildienst auf sechs Monate, jetzt soll der Start der verkürzten Dienste auch noch auf Oktober vorgezogen werden. Wäre es nicht ehrlicher, in Deutschland eine Berufsarmee einzuführen?
Elitz: Angesichts der neuen Aufgaben der Bundeswehr bei Friedensmissionen ausserhalb Deutschlands und der komplexen Geräte die sie einsetzt, spricht wirklich viel für eine Berufsarmee, deren Soldaten psychologisch, strategisch und technisch bestens ausgebildet sind. Wer sich nicht für den Bund entscheidet sollte zu einem einjährigen Sozialdienst verpflichtet werden: Eine Ausbildung zur praktischen Hilfe und Mitmenschlichkeit.
evangelisch.de: Am Samstag wird im Ruhrgebiet "Pilgern im Pott" eröffnet, das schöne wie weniger schöne Seiten offenbart. Warum tut sich das Ruhrgebiet mit einem Imagewandel so schwer?
Elitz: Bilder im Kopf ändern sich nicht so leicht. Selbst wenn in Bayern jeder Massanzug trägt, werden die Karikaturisten den Bayern noch immer in Lederhose malen. Dabei hat sich in keiner Region ein so radikaler Wandel vollzogen wie im Ruhrgebiet. Willy Brandt wurde verlacht, als er den "blauen Himmel über der Ruhr" versprach. Damals kannte man den Begriff "Umweltschutz" noch nicht. Der Himmel wurde blau. Aber dann folgte der Untergang der Zechen und der Schwerindustrie. Wie in keiner anderen Region wurden Hochschulen aus dem Boden gestampft. Doch die neuen Technologien, die im Pott angesiedelt wurden, waren nicht so arbeitsplatzintensiv wie erhofft. Arbeitslosigkeit und die fatale deutsche Ausländer- und Bildungspolitik haben auch die Städte des Ruhrgebiets gezeichnet, Siedlungen und Sozialstrukturen zerschlagen. Bei so viel radikaler Veränderung kann gar kein in die Zukunft tragendes Image entstehen. Auch beim "Pilgern im Pott" wird man das neue Bild des Ruhrpotts deshalb nicht finden.
Prof. Ernst Elitz, Jahrgang 1941, lebt als freier Publizist in Berlin. Nach seinem Studium der Germanistik, Theaterwissenschaften, Politik und Philosophie kam er über Stationen wie den "Spiegel" und das öffentlich-rechtliche Fernsehen zum Deutschlandradio, das er als Gründungsintendant von 1994 bis 2009 leitete.