Zu recht: "Roman unserer Kindheit" ist ein schauriges und schönes Buch, voll wilder Träume und geradezu mörderisch handfester Realität. Ganz und gar nicht ordentlich, alles andere als sittsam, dafür aber listig, vielstimmig, mystisch und konkret.
Man erinnert sich bei der Lektüre wieder anders an die eigene Kindheit. Auch wenn sie ganz und gar nicht so gewesen ist wie in dieser unglaublichen Geschichte vom Rand einer Stadt in Süddeutschland. Klein, 1953 in Augsburg geboren, erzählt über die Sommerferien eine Kindergruppe Anfang der 60er Jahre. Wer einfach nur Autobiografisches erwartet, täuscht sich: Diese Kinder jagen im Wald einen großen Bären, der sich an der Schwester der "Schicken Sybille" vergriffen hat. Sie tun sich mit Kriegsversehrten ohne Beine oder ohne Nase in einem verbrannten Gesicht zusammen. Und plötzlich bewegen sich alle auf eines großes Finale zu, das auch wieder mit sittsam geordneter Erwachsenen-Logik nicht zu fassen ist.
In seine halb fantastische, halb realistische Geschichte webt Klein viel ein über die grundlegenden Veränderungen in Kindern, wenn es in die Pubertät geht: Vorher "noch allesamt mit starken Augen geschlagen (...), bis ihnen der kleine Schrecken des Sex und das Schwarzweiß des Fernsehens den Blick lindern werden". Sprachlich so anspruchsvoll - und auch bewusst gedrechselt - wie hier im zweiten Satz bleibt Klein über alle 447 Seiten seines nicht einfach und schnell zu lesenden Buches.
"Es blutet und blutet"
Der erste lautet "Es blutet und blutet." Und benennt damit Schrecken als durchgängige Grunderfahrung. Der Satz kommt, wie alle anderen, von einer merkwürdigen Stimme: Klein lässt seine Sommergeschichte von einem noch Ungeborenen aus der Stadt der Kindergruppe erzählen.
Vom Bauch der Mutter aus sieht das Ungeborene, wohl ein Mädchen, viel mehr und ganz anderes als wir Erwachsenen. Der Blick noch nicht "gelindert". Deshalb durchschauen die Ungeborenen auch am besten die geordnete und nicht mehr so aufregende Welt der Erwachsenen. Kleins Erzählerin beweist das.
Die Fabulierkunst des Autors, oft verblüffend gewählte Begriffe, plötzliche Stimmenwechsel und eine barocke Bilderfülle nerven nie als artistische Kunstdarbietung. Man denkt immer mal wieder an die auch alles andere als unschuldige Kindergruppe in Michael Hanekes Film "Das Weiße Band". Oder an die Glas zerschmetternde Stimme des zwergigen Blechtrommlers Oskar Matzerath, die Günter Grass den Nobelpreis gebracht hat. Aber diese Erzählung über die Kindheit hat ihren völlig eigenen Ton.
Weitere Preise
Mit Klein nominiert waren Jan Faktor, Lutz Seiler, Anne Weber und Helene Hegemann, um die es eine besondere Debatte gegeben hatte. In der Kategorie Sachbuch/Essayistik gewann Ulrich Raulff mit "Kreis ohne Meister. Stefan Georges Nachleben" (C.H. Beck). Als bester Übersetzer wurde Ulrich Blumenbach ausgezeichnet - für die deutsche Fassung des Romans "Unendlicher Spaß" von David Foster Wallace (Kiepenheuer & Witsch).
epd