Fassungslos und mit einiger Wut im Bauch lesen Jane und Christian M. in ihrer Zeitung täglich über neue Fälle von sexuellem Missbrauch in kirchlichen Einrichtungen. Die beiden Katholiken aus Köln wollen ihren drei Kindern christliche Werte beibringen. "Aber an der katholischen Kirche scheint man sich nicht wirklich orientieren zu können", sagt Christian M. mit Blick auf die täglich neuen Enthüllungen etwas verbittert. Trotzdem soll der älteste Sohn im Herbst zum Kommunionunterricht gehen, auf eigenen Wunsch. Und im Prinzip findet Jane M. das auch gut so. "Allerdings müssen wir uns vorher noch mal mit ihm unterhalten und diese Skandale irgendwie thematisieren."
Doch wie spricht man mit seinen Kindern über ein Thema wie sexuellen Missbrauch? "Ich finde es sehr schwierig", meint Jane M., die lieber nicht mit ihrem vollen Namen genannt werden will. "Denn ich will meine Kinder ja auch nicht in Angst und Schrecken versetzen." Zur Ruhe rät auch Paula Honkanen-Schoberth, die Bundesgeschäftsführerin des Deutschen Kinderschutzbundes. "Eltern sollten vor allem bei solch präventiven Gesprächen nicht aufgeregt sein, damit das Kind merkt: Meine Mutter fällt nicht gleich vom Hocker", rät die Expertin.
"Natürliche Haltung"
Die Eltern sollten sich um eine möglichst natürliche Haltung zu Körperlichkeit und Sexualität bemühen, um den Kindern zu zeigen, dass diese Themen nicht peinlich oder schambesetzt sind, sagt die Psychologin, die jahrelang als Familientherapeutin gearbeitet hat. Schon für Kinder im Kindergartenalter gibt es Bilderbücher zur sexuellen Aufklärung und auch zu sexuellem Missbrauch. Dieses Material hilft Eltern dabei, das Thema anzugehen. Körperteile wie Scheide und Penis sollen benannt werden, damit die Kinder sich ausdrücken können. Den jungen Menschen soll klar werden, dass sie es sich von niemandem gefallen lassen müssen, an intimen Stellen angefasst zu werden. Die Eltern sollen dabei signalisieren: "Du kannst immer mit allem zu mir kommen und darüber reden."
"Eigentlich ist jetzt sogar eine ganz gute Gelegenheit durch all die Veröffentlichungen, denn gerade ältere Kinder kriegen aus den Medien und in der Schule durchaus etwas mit", meint Honkanen-Schoberth. Sie betont, dass sich sexueller Missbrauch nicht auf die Kirche beschränkt. "Er findet tagtäglich statt, in der Schule, in der Freizeit, in der Familie, beim Sport." In einer Statistik des Bundeskriminalamts wurden im Jahr 2008 über 12.000 Fälle von sexueller Gewalt an Kindern erfasst.
Die Experten sind sich einig, dass die Dunkelziffer sehr viel höher liegt und die allermeisten Fälle niemals bekannt werden. Eine Erwachsenen-Stichprobe in den USA soll ergeben haben, dass jede dritte bis vierte Frau und jeder siebte bis zehnte Mann in der Kindheit sexuell missbraucht wurde. Wie repräsentativ diese Zahlen für Europa sind, ist ungeklärt.
Täter aus dem Umfeld
Deutlich ist jedoch, dass der überwiegende Teil der Täter - bis zu 95 Prozent - aus dem sozialen Umfeld der Kinder und Jugendlichen kommt und fast ausschließlich männlich ist. Es sind Familienangehörige, Freunde der Mutter, Babysitter, Erzieher, Pfarrer, Gruppenleiter, Sporttrainer, Bekannte oder Freunde der Familie. "Den 'Bösen Mann im Busch' gibt es nur ganz selten", sagt Honkanen-Schoberth.
Unter sexueller Gewalt ist dabei im rechtlichen Sinne nicht nur tatsächliche körperliche Gewalt zu verstehen, sondern etwa auch die Belästigung mit obszönen Redensarten, die Selbstbefriedung des Täters vor dem Opfer oder die Berührung im Intimbereich. Wer den Verdacht hat, sein Kind könnte missbraucht worden sein, kann sich beispielsweise an Erziehungsberatungsstellen, den Kinderschutzbund oder pro-familia-Einrichtungen wenden. "Dort sind mittlerweile fast alle Mitarbeiter auch in Missbrauchsfragen geschult und können weiterhelfen", sagt Honkanen-Schoberth.
Selbstbewusste Menschen
Der beste Schutz bestehe darin, Kinder zu selbstbewussten jungen Menschen zu erziehen, die mit allen Themen offen umgehen, erläutert die Expertin. Zeit zu haben und zuzuhören sei wichtig. Denn die Täter suchten sich oft Kinder aus, die bedürftig und einsam sind, die Anerkennung suchen und emotional unsicher sind. "Kinder, die nicht auf fremde Zuneigung angewiesen sind, die genügend erwachsene Bezugspersonen haben, treten selbstbewusster auf und sind weniger gefährdet." Sie trauen ihrem "Bauchgefühl" und können leichter "Nein" sagen, wenn ihre Grenze überschritten ist und sie gegen ihren Willen berührt werden.