Und mitten im Skandal steht und schweigt der Papst
Der sexuelle Missbrauch an katholischen Einrichtungen in Deutschland zieht immer weitere Kreise. Auch der heutige Papst Benedikt XVI. ist in einen Fall verwickelt. In Joseph Ratzingers Amtszeit als Erzbischof von München und Freising (1977-1982) wurde ein pädophiler Priester wieder in der Gemeindearbeit eingesetzt. Die Gläubigen warten auf eine Erklärung.
15.03.2010
Von Bernd Buchner

Eine Lawine ist losgetreten, und niemand wird sie aufhalten. Der Skandal um sexuellen Missbrauch in katholischen Schulen und Gemeinden zieht immer größere Kreise. Zwar liegen die meisten Übergriffe viele Jahre zurück, und längst sind auch andere Einrichtungen betroffen. Doch die Augen der Öffentlichkeit blicken auf die Papstkirche – zumal Benedikt XVI. nun ganz persönlich mit einem Missbrauchsfall in Verbindung gebracht wird. Nichts weniger als die Glaubwürdigkeit und die moralische Autorität des Kirchenoberhaupts stehen damit auf dem Spiel.

Ist der nachmalige Papst zu sorglos mit einem gefährlichen Pädophilen umgegangen? Ein junger Geistlicher, der im Ruhrgebiet nicht mehr tragbar ist, wird im Jahr 1980 zum Thema einer Besprechung in der Erzdiözese München, an der auch Erzbischof Joseph Ratzinger teilnimmt. Der Kaplan soll eine Therapie machen. Dass er kurz darauf trotz seiner Vorgeschichte wieder in einer Gemeinde eingesetzt wird, will der damalige Generalvikar Gerhard Gruber eigenmächtig entschieden haben. Später wird der Priester rückfällig, ein Gericht verurteilt ihn zu einer Bewährungsstrafe.

Nur er selbst kann eine Antwort geben

Wusste Ratzinger davon? Nur er selbst kann darauf eine Antwort geben. Am Montag kündigte der Vatikan eine Erklärung des Papstes zum sexuellen Missbrauch an – sparte dabei allerdings nicht mit Medienschelte. Den Papst in die Skandale hineinziehen zu wollen, sei ein "Zeichen von Gewalt und Barbarei", erklärte ein Kurienerzbischof. Der Mann irrt doppelt. Benedikt XVI. steht schon mitten im Skandal, und Gewalt und Barbarei gehen einzig von den sexuell verirrten Priestern aus, nicht von der Berichterstattung über sie und ihre schändlichen Taten.

Schon als Papstbruder Georg Ratzinger (im Bild links neben dem damaligen Kurienkardinal Joseph Ratzinger) vor kurzem mit den Gewaltorgien bei den Regensburger Domspatzen, die er viele Jahre lang leitete, in Verbindung gebracht wurde, war man im Vatikan nervös geworden – zumal sich der heute 86-Jährige bei einer Unwahrheit ertappen ließ. Erst gab er an, nichts von Schlägen gegen Schüler gewusst zu haben, wenig später musste er einräumen, dass er selbst ohrfeigte. Ehemalige Domspatzen berichten, der Chorleiter habe bei Proben mit Stühlen nach ihnen geworfen. Benedikt XVI. dürften die Berichte über seinen Bruder wenig erfreuen.

Was das Kirchenoberhaupt vor seiner Amtszeit tat

Dass sich ein Papst für das rechtfertigen muss, was er vor seiner Amtszeit getan und unterlassen hat, mag für die katholische Kirche ungewöhnlich, gar eine Zumutung sein. Im Zeitalter einer kritischen, medial geprägten Öffentlichkeit ist das jedoch nichts als selbstverständlich. Auch in der Diskussion über Pius XII. (1939-1958) und sein Schweigen zum Holocaust werden immer wieder die antisemitischen Äußerungen des Pacelli-Papstes zitiert, als dieser noch Nuntius in Bayern war. In der Analyse seines Verhaltens im Zweiten Weltkrieg lässt sich das nicht ausblenden.

Ähnlich geht es nun Joseph Ratzinger: Ob es dem Vatikan gelingt, die Missbrauchsskandale in Deutschland und anderswo einigermaßen angemessen zu behandeln, wird wesentlich davon abhängen, wie und wann Benedikt XVI. zu jenem Münchner Fall Stellung nimmt. Jeden Mittwoch hält der Papst eine Generalaudienz, jeden Sonntag spricht er das Angelusgebet. Das sind gute Gelegenheiten. Bleibt ein klärendes Wort aus, verdeutlicht der Vatikan, dass er aus dem Kommunikationsdesaster im Zusammenhang mit den Piusbrüdern nichts gelernt hat.

Eine Lawine der Vorbeugung

Wichtig ist zudem eine neue Aufmerksamkeit für die Opfer. Ihnen klingt es wie Hohn, wenn etwa im Papstdekret "De delictis gravioribus" aus dem Jahr 2001 der sexuelle Missbrauch von Kindern eher beiläufig neben Verstößen bei Eucharistie und Beichte erwähnt wird. Doch der Blick auf Kirche und Vergangenheit darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass es allein in Deutschland jedes Jahr mindestens 150.000 neue Missbrauchsfälle gibt, die meisten von ihnen in der Familie. Die Lawine, die nun losgetreten wurde, muss auch eine Lawine der Vorbeugung werden.