Missbrauch: "Die Opfer werden mit keinem Wort erwähnt"
Lässt die Kirche die Opfer von Gewalt und sexuellem Missbrauch allein? Selbst wo nicht Vertuschung an der Tagesordnung ist, drängt sich manchmal der Eindruck auf, dass sich die Institutionen mehr um die Täter kümmern als um deren Opfer. Die Lehrerin Erika Kerstner berät und betreut aus eigenen Erfahrungen heraus Betroffene. Dies sind ihre Forderungen an die Kirchen.
12.03.2010
Von Erika Kerstner

Zwei Themen sind für Gewaltüberlebende von existenzieller Bedeutung: Sie suchen nach Sinn, und sie brauchen die Solidarität anderer Menschen. Wir haben uns immer wieder gefreut, wenn wir die Unterstützung von Menschen in den beiden Großkirchen erfahren durften. Zugleich waren wir oft erschrocken darüber, wie selten es möglich war, Christinnen und Christen zu finden, die ein offenes Ohr für Gewaltopfer haben.

Seit Beginn des Jahres 2010 beobachten wir mit Interesse und Hoffnung, dass – ausgehend vom Canisius-Kolleg der Jesuiten in Berlin – ein neuer Umgangsstil mit Gewaltopfern praktiziert wird. Es scheint möglich zu werden, dass Gewaltopfern zugehört wird. Das hat uns ermutigt, einmal zu formulieren, was wir von den Kirchen brauchen.

1. Gewalt gegen Schwächere sehen – hier, bei uns

Bislang nimmt die Kirche sehr aufmerksam wahr, dass überall auf der Welt Gewalt gegen die Schwächsten der Gesellschaft an der Tagesordnung ist. Es fällt ihr jedoch schwer zu erkennen, dass Gewalt gegen Frauen, Jungen und Mädchen auch in Deutschland, sogar in den Kirchen und mitten in den Gemeinden geschieht.

Jeder von uns kennt Gewaltopfer, ohne sich in der Regel darüber klar zu sein, denn Gewaltopfer tragen kein Etikett auf der Stirn, das sie kenntlich machen könnte. Sie erzählen auch nicht von ihren Erfahrungen, weil sie wissen, dass es die Opfer sind, denen ein Imageschaden droht, wenn sie sich zu erkennen geben. Kirchenleute sollten bedenken, dass sie es häufig in ihrem seelsorglichen Handeln mit Gewaltopfern zu tun haben, die sich nicht als solche zu erkennen geben, deren oft gesamtes Leben aber stark durch die erlittene Menschengewalt geprägt ist.

2. Sich über Traumafolgen informieren

Weitgehend unbekannt ist, dass 60 % aller Menschen, die Gewalt durch Menschen erlebten, unter langfristigen, mitunter lebenslänglichen Traumafolgen zu leiden haben. Bei Vergewaltigung und Missbrauch in der Kindheit ist die Zahl derer, die unter einer posttraumatischen Belastungsstörung leiden, noch höher. Die Öffentlichkeit wundert sich immer wieder, warum Menschen manchmal erst nach Jahrzehnten in der Lage sind, über die in jungen Jahren erlittene Gewalt zu sprechen. Viele wissen auch nicht, dass traumatische Erfahrungen nicht selten einer Amnesie unterliegen; das Gedächtnis blendet die Erinnerung aus, um die Seele zu schützen.

Zu den bedrückendsten Folgen von Menschengewalt gehört der Verlust des Vertrauens – in sich selbst, in die Welt, in Gott. Die amerikanische Psychiaterin Judith Hermann fasst zusammen: "Traumatische Ereignisse erschüttern zwischenmenschliche Beziehungen in den Grundfesten. Sie zersetzen die Bindungen an Familie, Freunde, Partner und Nachbarn, sie zerstören das Selbstbild, das im Verhältnis zu anderen entsteht und aufrechterhalten wird. Sie untergraben das Wertesystem, das der menschlichen Erfahrung Sinn verleiht. Sie unterminieren das Vertrauen des Opfers in eine natürliche oder göttliche Ordnung und stoßen es in eine existenzielle Krise."

Hermann weiter: "Im Augenblick der Angst wenden sich die Opfer spontan an die Quelle, die ihnen zuerst Trost und Schutz bot. Verwundete Soldaten und vergewaltigte Frauen schreien nach ihren Müttern oder nach Gott. Bleibt dieser Schrei unbeantwortet, ist das Urvertrauen zerstört. Traumatisierte fühlen sich extrem verlassen, allein und ausgestoßen aus dem lebenserhaltenden Rahmen von menschlicher und göttlicher Fürsorge und Schutz." Hinzu kommt, dass Opfer nicht selten zum Schweigen gebracht wurden.

Es ist unabdingbar, dass sich Kirchenleute über Gewalt und Gewaltfolgen informieren, damit es ihnen möglich wird, angemessen mit den Opfern umzugehen.

3. "Opfermythen" nicht übernehmen

Zum Schweigen gebracht werden Opfer auch durch Mythen über Gewalt. Davon gibt es eine Fülle. Sie haben Sinn, denn sie helfen Menschen, das Gefühl aufrecht zu erhalten, dass sie selbst nicht Gefahr laufen, Opfer von Gewalt zu werden. Was für Nichtbetroffene Sicherheit ist, ist für die Opfer aber eine zusätzliche Last: Ihnen wird vorgeworfen, sie hätten etwas falsch gemacht. Wenn die Ursache der Gewalt nämlich beim Opfer liegt, kann jeder sich anders als das Opfer verhalten und ist somit nicht in Gefahr.

Die Opfermythen signalisieren dem Opfer, es sei nicht integer, selber schuld, moralisch minderwertig. Wer ein solches Ansehen hat, tut gut daran zu schweigen. Häufige Opfer-Beschuldigungen, die oft zugleich Täter-Entschuldigungen sind:

  • "Opfer erkranken psychosomatisch, weil sie nicht vergeben wollen." Unterschlagen wird, dass psychosomatische Erkrankungen eine Folge der Gewalt sind. Die Schuld wird also beim Opfer gesucht – nicht beim Täter.
     
  • "Täter sind bemitleidenswert, denn sie waren früher doch auch Opfer." Übersehen wird, dass es viele Gewaltopfer gibt, die keine Täter werden – sonst wären nicht etwa 96 % der verurteilten Gewalttäter Männer. Nebenbei wird die Verantwortung der Täter für ihr Handeln geleugnet.
     
  • "Opfer sind irgendwie zugleich Täterinnen." Oder: "Wir sind doch alle Sünder." Das Standardargument all jener, die die Unterschiede zwischen Tätern und Opfern gern verwischen wollen.
     
  • "Opfer sind aufgrund ihrer Gewalterfahrung irgendwie unzurechnungsfähig und können – zur Schonung der Opfer! – in keinem Fall am Gespräch über Gewalt beteiligt werden" – eine besonders subtile Art der Diskriminierung.

Kirchenleute müssen lernen, die Funktion von Opfermythen zu verstehen und ihnen die Realität entgegensetzen.

4. Den Opfern zuhören und für sie eintreten

Ursula Raue, Missbrauchsbeauftragte des Jesuiten-Ordens, äußerte sich im Februar 2010 überrascht darüber, dass in den Akten zwar die Täter auftauchen, die Opfer jedoch mit keinem Wort erwähnt werden. Das ist üblich. In jeder Diskussion richtet sich der Fokus innerhalb kürzester Zeit vom Opfer weg auf den Täter hin.

Bislang war es so, dass Täter mit dem Mitgefühl der Kirche und ihrem Schutz rechnen konnten. Kirchenleute wiesen auf das schwere Schicksal des Täters hin und seine Suizidgefährdung im Fall einer Anzeige. Sie sprachen vom "sozialen Tod" des Täters, machten sich Gedanken darüber, dass der Täter als Kind sexuell missbraucht wurde. Das Mitgefühl gehörte den Tätern. Opfer kamen als Menschen in den Blick, die dem Ansehen der Institution Kirche schaden.

Es ist notwendig, die Perspektive der Bibel einzunehmen, und das ist die Perspektive der Opfer. Diese Perspektive ist nicht eine von vielen möglichen Sichtweisen; sie ist die einzige, die sich auf Gott und auf Jesus berufen kann. Nur eine Kirche, die sich mit den Ausgestoßenen und den unschuldig Leidenden solidarisiert, kann für sich in Anspruch nehmen, Kirche Jesu Christi zu sein.

Wer den christlichen Gott als einen "Gott der Opfer" verkünden will, muss lernen, dass nicht länger über Opfer gesprochen werden darf, sondern mit ihnen. Nur so ist vermeidbar, dass Opfer erneut zu Objekten degradiert werden – diesmal zu Objekten christlichen Handelns.

5. Mit Vergebungsforderungen an Opfer vorsichtig umgehen

Es ist im kirchlichen Raum üblich, von Gewaltopfern zu erwarten, sie müssten denen, die an ihnen Verbrechen begangen haben, vergeben. Diese Forderung wird oft erhoben, bevor die Gewaltopfer ihr Leid ermessen oder gar mitteilen konnten. Immer wieder wird Opfern gesagt, auch Jesus habe am Kreuz seinen Henkern verziehen. Mitnichten hat er das getan: Er hat seinen Vater im Himmel gebeten, seinen Mördern zu verzeihen. Das ist ein Unterschied. Es gibt Verletzungen von Menschen, die manchmal erst vor Gott vergeben werden können. Johann Baptist Metz beschreibt den Sachverhalt zutreffend: "Die die biblischen Traditionen beunruhigende Frage nach der Gerechtigkeit für die unschuldig Leidenden wurde allzu schnell verwandelt und umgesprochen in die Frage nach der Erlösung der Schuldigen."

Ich würde mir von Kirchenleuten wünschen, dass sie ihre Psalmen lesen lernen als Gebete von Menschen, die in ihrer Not nur noch schreien können. Dort werden die Opfer nicht zum Schweigen gebracht. Heilsam wäre, wenn Kirchenleute im Umgang mit Gewaltopfern ehrlichen Herzens den Respekt aufbringen könnten, den die Psalmen den Opfern von Menschen entgegenbringen.

6. Den Opfern Heimat anbieten

Gewaltopfer werden noch immer als "die anderen" angesehen, die nicht zugehörig sind. Die Kirche sollte ihnen die Zugehörigkeit zur Gemeinschaft der Christinnen und Christen anbieten. Zu den am schwersten aushaltbaren Gewaltfolgen gehören der Verlust an Vertrauen und der Verlust an "Heimat auf Erden". Wenn Christinnen und Christen helfen, das in der Gewalt zerstörte Vertrauen wieder aufbauen zu helfen und Gewaltopfern in der Kirche eine Heimat anzubieten, dann ist das heilsam für die Gewaltüberlebenden – und bereichernd für die Kirche.


Die Grund- und Hauptschullehrerin Erika Kerstner betreibt die Internetseite www.gottes-suche.de zu Fragen des Glaubens nach Gewalterfahrungen.