Die kranken Seelen der Seelsorger
Die Missbrauchsvorwürfe in der Kirche stellen das katholische Priestertum unter Generalverdacht. Das Problem vieler Geistlicher sei eine emotionale und körperliche Unreife, die sich in der Unfähigkeit zu echten Beziehungen zeige, sagt der katholische Theologe und Psychotherapeut Wunibald Müller. Er plädiert für einen realistischen Blick auf die Bürde des Zölibats.
12.03.2010
Von Wunibald Müller

Manchmal wäre es angebracht, am Eingang einer Diözese oder einer Kirche ein Schild aufzustellen mit der Aufschrift: "Vorsicht! Wer hier eintritt, gefährdet seine spirituelle Gesundheit". Es gibt auch eine Spiritualität, die uns krank macht, die uns klein hält, die uns depressiv stimmt, die unsere Kreativität, Spontanität, Freude und Lust am Leben durch Legalismus, Dogmatismus tötet. Das gilt für Priester und Seelsorger nicht weniger als für den normalen Gläubigen.

„Wie kannst du Mensch sein, wenn du dich verloren hast?“

Eine solche Spiritualität trägt nicht dazu bei, dass ein Priester ausgeglichen lebt, also angemessen Rücksicht nimmt auf die Grenzen seines Körpers. Sie motiviert ihn nicht, sich immer wieder eine Auszeit zu gönnen, in der er auftankt, achtsam und liebevoll mit seinem Körper umzugehen, mit dem Ergebnis, dass er mit der Zeit ausbrennt, seelisch krank wird.

Eine gesunde Spiritualität nimmt dagegen ernst, was bereits der mittelalterliche Abt Bernhard von Clairvaux in einem Brief an den damaligen Papst feststellte: "Wie kannst du voll und echt Mensch sein, wenn du dich selbst verloren hast? Was würde es dir aber nützen, wenn du alle gewinnen, aber als Einziger dich selbst verlieren würdest?"

Bei aller Nächstenliebe darf der Seelsorger die Selbstliebe nicht vergessen. Das hat nichts mit Egoismus zu tun. Erst wenn ein Seelsorger auch für seinen Leib und seine Psyche Sorge trägt, kann er auch in einer angemessenen Weise für seine Gemeindemitglieder da sein. Er sollte von sich sagen können: Ich tue das, was ich tun kann, ich bin aber immer nur der kleine Hirt. Den Rest überlasse ich getrost dem großen Hirten, Gott.

Erfahrung von Intimität

Eine gesunde Spiritualität will dazu beitragen, dass Priester und Seelsorger beziehungsfähig sind und in ihren Beziehungen und Begegnungen die Erfahrung machen dürfen, geliebt zu werden. Für sie ist es wichtig, nicht nur in der Pfarrei gute Beziehungen zu unterhalten, sondern auch im privaten Leben in innigen Beziehungen zu Männern und Frauen zu stehen, die sie herausfordern. Beziehungen, in denen sie so sein dürfen, wie sie sind und die Möglichkeit haben, in ihrer Beziehungs- und Intimitätsfähigkeit zu wachsen und sich verwundbar zu machen.

Um auf eine spirituell und psychisch gesunde Weise so leben zu können, dass ihnen ihr Leben Freude und Lust macht, ist es für Priester wichtig, eine mit ihrem Amt und ihrem Auftrag in Einklang zu bringende legitime Form von Intimität zu erfahren. Viele Priester berichten – wenn sie denn offen darüber sprechen können – von ihrer Vereinsamung und ihrem Verlangen nach Intimität. Was ihnen fehlt, ist die Erfahrung von Intimität, die Nahrung, die aus guten, weil tiefen zwischenmenschlichen Beziehungen hervorgeht.

Wem diese Nahrung vorenthalten wird, der wird hungrig bleiben. Ihm wird zugleich eine tiefe Erfahrungsquelle von Zufriedenheit, von Freude und Lust am Leben verschlossen bleiben. Er wird versuchen, wenn er seinen Hunger nach Sinnlichkeit, nach Intimität, nach der Erfahrung von echten, tiefen Beziehungen und Freundschaften nicht stillen kann, seinen Hunger anderswo zu stillen. Er wird versuchen, die Nahrung, nach der er verlangt, anders zu bekommen: durch Erfolg, Arbeit, Internet, Cybersex und anderes mehr.

Zölibat und sexueller Missbrauch

Eine der ersten Antworten auf die Frage, was getan werden kann, um sexuellen Missbrauch zu verhindern, lautet: die psychische Gesundheit der Priester, Seelsorger und Ordensleute zu fördern. Zur psychischen Gesundheit trägt entscheidend bei, wenn durch die Ausbildung und auch danach eine normale sexuelle Entwicklung und damit einhergehend die generelle Befähigung des Priesters gefördert wird. Beziehungen, die die Erfahrung von Intimität ermöglichen, in denen Priester oder die Mitglieder einer Ordensgemeinschaft sich getragen und geborgen erleben, können einen Schutz vor potenziellem sexuellen Missbrauch bieten.

Gibt es einen Zusammenhang zwischen dem sexuellen Missbrauch Minderjähriger durch Priester und dem Zölibat? Die einen bestreiten das vehement, andere wieder sehen in der Ehelosigkeit eine wesentliche Ursache für sexuelle Übergriffe. Beide Gruppen machen es sich zu einfach. Der Zölibat als direkte Ursache für sexuellen Missbrauch Minderjähriger lässt sich nicht nachweisen. Wer pädophil veranlagt ist und seine Veranlagung ausleben möchte, den schützen weder sein Gelübde noch die Ehe davor, das zu tun. Tatsache ist schließlich auch, dass mehr als 90 Prozent des sexuellen Missbrauchs von Angehörigen verübt werden.

Emotionale Unreife

Das entbindet Priester allerdings nicht von der Verantwortung für sich selbst. Eine verzerrte Vorstellung vom Zölibat kann die Fähigkeit, sich mit der eigenen Sexualität auseinanderzusetzen und sich dem Prozess zu stellen, der zur Beziehungsfähigkeit führt, erschweren oder gar verhindern. Das trifft vor allem auf Priester zu, die in ihrer sexuellen Entwicklung unterentwickelt oder stehen geblieben sind und die den Zölibat in dem Sinne missverstehen, dass sie meinen, sich nicht mit der eigenen Sexualität auseinandersetzen zu müssen. Das eigentliche Problem ist hier eine emotionale – und damit auch sexuelle – Unreife, die sich dann auch in der Unfähigkeit zu echten Beziehungen und zu echter Intimität zeigt.

Deswegen ist der betreffende Priester noch nicht dazu prädestiniert, Minderjährige zu missbrauchen. Aber er ist in besonderer Weise gefährdet, was Grenzverletzungen betrifft. Auch wenn er in seiner sexuellen Entwicklung stehen geblieben ist, lebt und wirkt seine Sexualität in ihm, wird auch er ein Verlangen nach Nähe, menschlicher Wärme und sexueller Entspannung verspüren. Doch ihm fehlt der innere Rahmen und die Fähigkeit, darauf in reifer und verantwortungsvoller Weise reagieren zu können. Voraussetzungen dafür sind eine gelungene Identitätsfindung und Befähigung zur Intimität.

Bei homo- wie heterosexuellen Priestern, die Minderjährige sexuell missbrauchen, fehlt oft diese Befähigung zur Intimität. In der Kindheit konnten sie keine sichere emotionale Beziehung zu ihren Eltern oder Erziehern entwickeln. Als Erwachsene haben sie Schwierigkeiten, sich mit gleichaltrigen Männern und Frauen auf tiefe, intime Beziehungen einzulassen. Eine gleichberechtigte, erwachsene und tiefe Beziehung übersteigt vielfach ihre Möglichkeiten. So suchen sie die Nähe von bedürftigen Kindern oder Jugendlichen, bei denen sie weniger Angst haben, zurückgewiesen zu werden, bei denen sie mit Bewunderung rechnen und die sie kontrollieren können. Auffällig ist weiter, dass sie wenig Einfühlungsvermögen gegenüber ihren Opfern haben und auch kaum Schuldgefühle hinsichtlich ihres Verhaltens empfinden. Sie sind nicht in der Lage, die Intimsphäre eines anderen Menschen zu respektieren.

Intimität kann man lernen

Reife Intimität zeigt sich in der Fähigkeit, sich auf einer tiefen Ebene über Gedanken, Wünsche, Sehnsüchte, Ängste, Hoffnungen austauschen und sich in das Gegenüber einfühlen zu können. Reife Intimität kommt weiter zum Ausdruck, wenn zwei Menschen von einer Ich-Stärke heraus in eine gefühlvolle und persönliche, von Vertrauen getragene Beziehung zueinander treten können.

Die Fähigkeit zur Intimität beinhaltet ferner, sich auf eine innige Weise mit anderen Menschen einlassen und ihnen Nähe schenken zu können, zugleich auch in der Lage zu sein, sich selbst von anderen Menschen Nähe schenken lassen zu können. Schließlich zeigt sich reife Intimität in der Fähigkeit, die Grenzen und die Intimsphäre eines anderen respektieren, und das eigene sexuelle Verlangen kontrollieren zu können.


Wunibald Müller ist katholischer Theologe, Psychologe und Leiter des Recollectio-Hauses der Abtei Münsterschwarzach. Er betreut dort Priester, Ordensleute und kirchliche Mitarbeiter in persönlichen Krisensituationen.