Gewalt vs. Pädagogik: Die "Mädchengang" bei RTL2
Die Hilfsorganisation Weißer Ring kritisiert die Doku-Soap „Die Mädchengang“ von RTL II als gewaltverherrlichend, RTL II findet sich pädagogisch – und authentisch. Die Grenzen sind fließend, auch rechtlich.
12.03.2010
Von Miriam Bunjes

Mitten in der Eifel, zwischen Kirchtürmen und Hunde führenden Senioren treffen sich zwei Jugendliche aus der Großstadt. "Ich kenn dich", sagt die 17-Jährige. "Du warst doch auch in Wetter im Knast." Die so angesprochene 16-Jährige antwortet angenehm überrascht: "Ja." Und dann tauschen sich die beiden über ihre Frisuren aus, die sich in der Zwischenzeit verändert haben.

Das ist der Anfang der "Mädchengang", seit dem 22. Februar montags abends auf RTL2. Sechs junge Frauen sollen in einem Haus im Eifelörtchen Malberg "auf den Weg in ein normales Leben" gebracht werden, wie es RTL2-Sprecherin Lisa Christeleit formuliert. Der Ist-Zustand der 16- bis 20-Jährigen wird eingängig im Trailer beschrieben: "Drogen, Sex, Gewalt und Alkohol bestimmen ihren Alltag. Ihre Strafregister sind lang und sie verbringen mehr Zeit auf der Polizeiwache als in der Schule." Dazu strecken auf Hip-Hop-Gangstabraut gestylte Teenager den Mittelfinger in die Kamera.

Permanenter Gebrauch von Schimpfwörtern

Inzwischen haben sie mit einem Benimmtrainer ihren permanenten Gebrauch von Schimpfwörtern thematisiert, sind vom vorher instruierten Discotürsteher vor einem Tanzlokal abgewiesen worden und haben sich nachher dafür geschämt, wie sie daraufhin die anderen Gäste angepöbelt haben. Vor allem haben sie dem Millionen-Publikum ihre Gewalttaten berichtet und gezeigt wie extrem ihr Leben bislang verlaufen ist. Dreimal hat Kiki einem Opfer den Kiefer gebrochen. "Wow. Das hab ich nur bei ´ner Nase geschafft", sagte eine andere. Eine Anklage wegen versuchtem Totschlag bringt ein anerkennendes Nicken der Gruppe.

Aus 150 Mädchen hat RTL2 die Mädchen gecastet – "alle sind auf der Straße angesprochen worden", sagt die Sprecherin. Bewerbungskriterium war augenscheinlich das Gewaltpotential. Und weil es nicht reicht, die "Ladies" – wie der am ganzen Körper tätowierte Anti-Gewaltcoach der Sendung sie nennt – Sätze wie "Ich mag es einfach, Leute zu erniedrigen" sagen zu lassen, wird die schlagende Vergangenheit kurz bebildert und immer wieder zur Charakterisierung eingespielt. "Carina-Cam" steht unter den etwas verwackelten Aufnahmen. Und man sieht die 19-jährige Carina mit ihren Freunden am Stuttgarter Hauptbahnhof. "Ein schiefer Blick und schon lassen sie ihren Frust an Passanten ab", sagt der Sprecher aus dem Off. Die nächste Szene ist mit Hardrockmusik unterlegt, zu der Carinas Freunde einen unkenntlich gemachten Mann anrempeln und zu Boden schubsen.

Gewalt als Unterhaltungseffekt

"Die ganze Sendung setzt auf Gewalt als Unterhaltungseffekt", sagt Veit Schiemann vom Weißen Ring, der sich für die Opfer von Straftaten einsetzt. "Opfer tauchen dabei nur als Trophäen der Täterinnen auf." Für jemanden, der mal Opfer war, unerträglich. Denn: "Die Botschaft dieser Sendung ist, dass Gewalt sich durchsetzt – auch wenn die Erwachsenen im Film immer wieder sagen, dass der Weg falsch ist", findet Schiemann. "Das Mobbing der Mädchen untereinander und das aufpeitschende Vergleichen und Prahlen mit der Schwere ihrer Verbrechen suggeriert den Zuschauern, besonders den jungen, dass Gewalt irgendwie doch cool ist und in der Gruppe Macht verleiht."

Ihn stört vor allem, dass die Opfer unsichtbar bleiben, während die Täter sich in Szene setzen. "Auch wenn es das vorgebliche Ziel der Sendung ist, die Täterinnen zu ändern – RTL2 will aus dem Voyeurismus an den Taten Profit ziehen. Das merkt man daran, wie viel Raum den Gewaltausbrüchen und Prahlereien der Mädchen gegeben wird."

Etwa 200.000 Menschen werden pro Jahr in Deutschland Opfer von Gewaltverbrechen, hat die Schiemanns Organisiation dokumentiert. Die gezeigte Bahnhofssituation ist klassisch. Die Folgen sind nicht nur körperlich, sondern auch psychisch spürbar. "Viele haben damit jahrelang zu tun, können bestimmte Wege nicht mehr gehen, leiden an Panikattacken", sagt Schiemann. "Und RTL2 hält einfach aus der Täterperspektive die Kamera darauf."

Keine echte Gewalt?

Aber was hat RTL2 dort gefilmt? Ist Carina mit einer RTL2-Handkamera zum Bahnhof losgezogen und hat im Auftrag einen Passanten angegriffen? Oder hat sie ein Team dabei begleitet und die Szene gefilmt – ohne dem Mann zu helfen? "Nein, nein. Echte Gewalt zeigen wir nicht", sagt die RTL2-Sprecherin schnell – obwohl es ihr vorher sehr wichtig war, hervorzuheben, "dass die Sendung echt ist, auch wenn in einigen Berichten etwas anderes behauptet wird." Der Mann sei Schauspieler oder Laienschauspieler gewesen. Außerdem sei es da nur um die Vorstellung der Mädchen gegangen, dem "Projekt" an sich ginge es schließlich um die Veränderung dieses Verhalten.

"Doku-Soaps sind schon aus rechtlichen Gründen nicht echt", sagt Stephan Dreyer, Medienrechtler des Hans-Bredow-Institut der Universität Hamburg. "Eine Szene wie diese hätte ja sonst strafrechtliche Konsequenzen." Für die Zuschauer ist das aber nicht immer zu erkennen, vor allem nicht für die jüngeren. "Vermeintlich echte Gewalt berührt die Zuschauer in jedem Fall emotional stärker", sagt der Medienforscher. "Sie können sich ja nicht sagen, ist ja nur ein Film, sondern sie müssen sich innerlich stärker damit auseinandersetzen. Daraus können positive Lerneffekte entstehen aber auch gefährliche Identifikationen – da kommt es dann auf den Rest der Sendung an."

Die Sicht des Jugendschutzes

Ob sie aus Sicht des Jugendschutzes einwandfrei ist, steht noch nicht endgültig fest. Die Kommission von Jugendmedienschutz, eine gemeinsame Einrichtung der Landesmedienanstalten, beobachtet die Sendung und wird sich "bald darüber beraten", teilt eine Sprecherin mit. Der Freiwilligen Selbstkontrolle Fernsehen, der RTL2 angehört, hat der Sender das Format nicht im Voraus vorgelegt. "Wir werden trotzdem ein Gutachten erstellen", sagt Gutachterin Claudia Mikat. "Gerade weil junge Zuschauer nicht unterscheiden können, was jetzt Realität und was gestellt ist, muss man die Gewaltwirkung der Sendung genau prüfen."


Die Opferorganisation Weißer Ring hat sich gegen öffentliche Kampagnen zur Sendung entschieden. "Das verschafft der Sendung noch mehr Aufmerksamkeit und das wollen wir nicht", sagt Veit Schiemann. "Eine Sendung wie die Mädchengang fördert Gewalt, weil sie Täter und Mitläufer anspricht. Aber eine Fernsehsendung hat zum Glück nicht so viel Einfluss auf die Gesellschaft, dass wir schlimme Konsequenzen fürchten müssen."

Und wenn dann sind sie laut RTL2 gut – "sie wissen genau, die Mädchengang ist ihr letzte Ausweg", proklamiert die Trailerstimme. "Jetzt bietet ihnen RTL2 die letzte Chance." Drei Wochen haben Psychologin Susann Szyszka und Anti-Gewaltcoach Ralf Seeger dazu Zeit. Seegers Konzept: "Man muss auch Eier haben und dann auch zeigen können, wo die Eier hängen." Entsprechend brüllt er, wenn eine "Lady" ihr Handy nach mehrmaliger Aufforderung nicht rausrückt: "Bin ich dein Lude oder was?" Er spricht die Sprache der Mädchen – und die ist die Sprache der Sendung. Szyszka macht es sanfter. Als ein Mädchen vom ersten Abend an gemobbt und provoziert wird, analysiert sie am Frühstückstisch: "Sie hätte ihre Dominanz zeigen müssen."

Betreuung auch nach der Sendung

In einem Sendeumfeld aus mit Gewalt prahlenden Teenagern eine durchaus problematische Kritik an einer Gemobbten. Auch wenn die Selbsterkenntnis der Mädchen im Laufe der Sendung zunimmt, zumal sie in jeder Folge drastisch mit ihrem Verhalten konfrontiert werden. Und die Aussagen, dass die Mädchen Regeln brauchen und jemanden, der sie konsequent durchsetzt, sicherlich wahr sind. Nach den in Februar abgedrehten drei Wochen gehe die Betreuung weiter, sagt die RTL2-Sprecherin. "Die Mädchen können immer anrufen und sind an Beratungsstellen weitervermittelt worden." Der Ansatz des "Projekts" sei es eben, den Täterinnen pädagogische Hilfe zu geben, daher stünden diese auch im Mittelpunkt.

Kann eine Sendung das? "In drei Wochen lassen sich die Probleme, die hier dargestellt sind nicht lösen", sagt Medienpsychologin Astrid Carolus. "Dafür sind die Probleme zu manifest: Da sind Mädchen mit unsicherer Sexualität, Drogensucht, eine ist schon dreifache Mutter, alle haben diverse Gewaltverbrechen begangen – dafür ist eine jahrelange therapeutische Arbeit erforderlich." In der Sendung würden die Mädchen mit ihrem Verhalten konfrontiert. Sehr provokant und stark inszeniert, wie Carolus findet.

Keine "gefährliche Identifikation"

"Das Drehbuch setzt sie gezielt drastischen Konfrontationen aus wie die inszenierte Abweisung an der Discotür." Das breche psychisch einiges auf – was dann aber längerfristig bearbeitet werden muss, um erfolgreich zu wirken. Dass die Sendung Zuschauer zu einer gefährlichen Identifikation mit den Täterinnen anregt, hält die Psychologin für unwahrscheinlich. "Dafür sind diese Mädchen zu krass dargestellt. Ihre Sprache und ihr Auftreten erschrecken die meisten Zuschauer und erzeugen beim Schauen eher ein "Mir geht es viel besser als denen"-Wohlgefühl. Darum geht es auch bei den Drehbüchern zu diesen Formaten."

Für die Mädchengang ein Erfolgskonzept: Die Sendung läuft gut für RTL2 – besser als vieles in der letzten Zeit. 7,5 Prozent Marktanteil in der werberelevanten Zielgruppe der 14 bis 49jährigen, 4,1 Prozent beim Gesamtpublikum – 1,41 Millionen Zuschauer guckten den Auftakt. Auch RTL ist mit "Teenager außer Kontrolle" erfolgreich in die vierte Staffel gegangen. Geworben wird zwischen den unzensierten Schimpfwörtern für Pudding, Advocard und Antifaltencreme – Gewalt kann eben jeden interessieren.


Miriam Bunjes ist freie Journalistin und lebt und arbeitet in Dortmund