Journalismus im Netz (IV): "Mehrwert für Nutzer"
Sorgt das Internet für einen Verlust an Qualität im Journalismus? Bei der Tagung "Qualität unter Druck - Journalismus im Internetzeitalter" an der Evangelischen Akademie Tutzing gingen Medienmacher und Medienwissenschaftler zwei Tage lang dieser Frage nach. Zudem skizzierten sie, wie sich Qualität im Netz verwirklichen lässt. Evangelisch.de dokumentiert in dieser Woche fünf Vorträge der Tagung. Hier den von Vera Lisakowski (Grimme Online Award).
11.03.2010
Von Vera Lisakowski

Journalistische Qualität beim Grimme Online Award

10.000 Zeitschriften werden in Deutschland herausgegeben, ein Zeitschriftenladen – und sei er auch noch so groß – bietet auch davon immer nur einen kleinen Teil. Die Zahl von Printprodukten ist begrenzt. Die Zahl von Websites hingegen scheint unendlich: Allein 13 Millionen Domains sind in Deutschland registriert. Es ist für die Internetnutzer nicht zu durchschauen, welches Angebot Qualität liefert und welches nicht, welcher Anbieter hinter den jeweiligen Websites steckt. So ist es kaum verwunderlich, dass Rezipienten den Informationen im Internet deutlich weniger Vertrauen entgegenbringen als denen in Printprodukten, im Hörfunk oder im Fernsehen.

Der seit 2001 verliehene Grimme Online Award möchte in der Fülle dieses scheinbar unüberschaubaren Mediums Internet Orientierung bieten und zeigen, dass es auch im Netz qualitativ hochwertige, publizistische Angebote gibt. Im Verfahren und in der Zielsetzung orientiert sich der Grimme Online Award dabei am Adolf-Grimme-Preis, mit dem seit 1964 herausragende Fernsehsendungen ausgezeichnet werden. Hierbei definieren besonders drei Eigenschaften Profil und Anspruch beider Preise: Unabhängigkeit, Transparenz und Partizipation.

"Vier Kategorien"

Partizipation bildet die Grundlage des Preises: Internetnutzer wie Website-Anbieter können über ein Formular auf der Website des Grimme Online Award (www.grimme-online-award.de) Internetangebote für den Wettbewerb vorschlagen. Im Jahr 2009 wurden 1.700 Angebote eingereicht, aus der die Nominierungskommission die Nominierten ausgewählt hat. Maximal 30 Websites können für den Preis nominiert werden, aus ihnen wählt die Jury bis zu acht Preisträger in vier Kategorien aus. Zusätzlich wird ein Publikumspreis vergeben, der nicht der Beurteilung durch die Jury unterliegt, sondern über ein Voting aus den Nominierten von den Internetnutzern ausgewählt wird: Die Website mit den meisten Stimmen gewinnt.

Die Preiskategorien wurden immer wieder an das sich verändernde Medium Internet angepasst. Derzeit handelt es sich um die vier Kategorien Information, Wissen und Bildung, Kultur und Unterhaltung sowie Spezial. In der Kategorie Information werden Angebote ausgezeichnet, die vornehmlich der aktuellen Informationsvermittlung dienen. In Wissen und Bildung finden sich Websites, die der Vermittlung von Wissensinhalten dienen, Kultur und Unterhaltung widmet sich der Kulturvermittlung und hochwertigen Unterhaltungsangeboten im Netz. Die Kategorie Spezial ist die jüngste der vier Kategorien. Mit ihr hat das Adolf-Grimme- Institut auf die Tatsache reagiert, dass viele Websites herausragende Einzelleistungen in einem Bereich erbringen, der sich nicht in die drei anderen Kategorien einordnen lässt, bzw. eine technische Entwicklung die Grundlage für ein herausragendes Webangebot bildet, was aber nicht mit einer von Menschen erbrachten publizistischen Leistung vergleichbar ist.

"Keine Checkliste"

Ausgewählt werden Nominierte und Preisträger von zwei unterschiedlichen unabhängigen Gremien: der Nominierungskommission und der Jury. Die vom Adolf- Grimme-Institut berufenen Mitglieder sind ausgewiesene Online-Experten wie Journalisten, Blogger, Wissenschaftler, Designer oder Usability-Experten. So soll ein möglichst breites Meinungsspektrum geschaffen und sichergestellt werden, dass unterschiedliche Beurteilungskriterien Beachtung finden. Die Jurys beurteilen so zum Beispiel Inhalte, Gestaltung, Möglichkeiten der Kommunikation, Nutzerfreundlichkeit, Service, Intermedialität oder Kreativität.

Es müssen nicht alle Kriterien auf alle Websites in gleichem Maße zutreffen, es gibt auch keine Checkliste, nach der in den einzelnen Aspekten Punkte vergeben werden – jede Website wird nach ihrem Gesamteindruck und nach ihren speziellen Anforderungen, aber auch nach ihren individuellen Produktionsbedingungen, bewertet. Und so kann es auch sein, dass eine herausragende Leistung in einem Bereich eine Schwäche in einem anderen Bereich aufwiegt, wie zum Beispiel fast alle nominierten oder ausgezeichneten Weblogs inhaltlich herausragend sind, aber in Design und Zugänglichkeit im Regelfall Schwächen aufweisen.

Vom Wettbewerb um den Grimme Online Award ausgeschlossen sind neben Websites, für die Mitglieder der Nominierungskommission oder Jury verantwortlich zeichnen, bzw. die Sponsoren zugeordnet werden können, auch Angebote, die nur oder überwiegend werblichen Zwecken bzw. der reinen Selbstdarstellung dienen. Teilnehmen können deutschsprachige publizistische Websites – wobei der Begriff Publizistik von der Nominierungskommission immer wieder diskutiert wird: Ab wann sind zum Beispiel Fotos publizistisch? Kann ein Forum als publizistisch bezeichnet werden? Und was, wenn eine Technik die Auswahl der Veröffentlichungen vornimmt? An diesen Diskussionen zeigt sich, dass hergebrachte Kriterien und Qualitätsansprüche zwar die Grundlage für die Beurteilung des Internets bilden, aber unter Umständen auch ganz neu gedacht werden muss, weil sich online Möglichkeiten eröffnen, die es so vorher nicht gab.

Das ist aber auch genau die Stärke des Internets: Dadurch dass es die Eigenschaften von Print, Hörfunk und Fernsehen vereint und neue Techniken ganz neue Möglichkeiten eröffnen, können hier auch journalistische Angebote aus den traditionellen Medien auf qualitativ hochwertige Weise fortgesetzt und ergänzt werden, was Nominierte und Preisträger der vergangenen Jahre beispielhaft zeigen.

"Weder Platz- noch Zeitprobleme"

Das Weblog des Sportjournalisten Jens Weinreich ("jensweinreich.de") wurde 2009 mit dem Grimme Online Award Information ausgezeichnet. Weinreich arbeitet auch für andere Medien, aber in seinem Weblog kann er schreiben, wofür in der Zeitung kein Platz und im Radio keine Zeit ist – über die Hintergründe von Dopingfällen oder aber über Sportpolitik. Ein ähnliches Angebot ist das Gruppen-Weblog "Carta" ("carta.info"), ebenfalls mit einem Grimme Online Award Information im Jahr 2009 ausgezeichnet. Bei "Carta" beleuchten Journalisten und Fachleute in regelmäßigen Beiträgen vor allem Zusammenhänge und Hintergründe, etwa zur Medienpolitik der Parteien, zu den Themen Qualitätsjournalismus oder Urheberrecht.

Beide Beispiele zeigen, wie die Berichterstattung der traditionellen Medien im Internet fortgesetzt werden kann, weil hier weder Platz- noch Zeitprobleme dagegen sprechen. Die vielen Kommentare und Reaktionen zeigen aber auch, dass offenbar ein Grundbedürfnis nach Qualitätsjournalismus besteht.

Es gibt unter den Nominierten aber auch Beispiele, wie Printmedien das Internet nutzen können, um ihr eigenes Angebot zu erweitern und Nutzergruppen zu binden. So setzt die Wochenzeitung "Der Freitag" (www.freitag.de) seit Anfang 2009 konsequent auf Nutzerbeteiligung: Auf der 2009 nominierten Website können nicht nur alle Beiträge kommentiert werden, sondern die aktive Community stellt in verschiedenen Blogs ihre eigenen thematischen Akzente und Sichtweisen zur Diskussion. Diese Beiträge werden dann teilweise im Print-Magazin abgedruckt.

Das wöchentlich erscheinende Anlegermagazin "Börse- Online" hingegen nutzt die Archivfunktion, die das Internet bietet. In einem eigenen Anlegerschutzportal werden zentral Informationen über den "Grauen Kapitalmarkt" archiviert und abrufbar gemacht. Auf dem 2008 nominierten www.graumarktinfo.de lässt sich mit der innovativen Form der Netzwerkdarstellung bequem recherchieren, ob ein Anlageanbieter bereits negativ aufgefallen ist oder in Verbindung mit einem "schwarzen Schaf" steht.

"Leserbindung"

Der Bindung der traditionellen Zeitungslesergruppen haben sich sowohl der Lesesaal der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" als auch ein Zeitzeugenportal der "Stuttgarter Zeitung" verschrieben. Der 2008 nominierte Frankfurter Allgemeine Lesesaal (lesesaal.faz.net) stellt Bücher zur Diskussion, die in der Zeitung vorabgedruckt werden. Leider wird das Projekt nach der Startphase 2008 nicht mehr engagiert weiterbetrieben.

Nach wie vor stark frequentiert ist das 2009 in der Kategorie Wissen und Bildung nominierte "Von Zeit zu Zeit" (www.von-zeit-zu-zeit.de) der "Stuttgarter Zeitung". Hier wird lokale Zeitgeschichte von Nutzern in Fotos und kurzen Texten persönlicher Erlebnisse abgebildet. Die bei diesem Thema meist älteren Nutzer können ihre Beiträge selbst auf die Website stellen.

Der Bindung jüngerer Leser dienen andere Tageszeitungsaktivitäten im Internet: Das Jugendmagazin der Süddeutschen Zeitung, "jetzt.de", wurde 2006 in der Kategorie Information ausgezeichnet. Das Weblog der "Badischen Zeitung" in Freiburg, "fudder.de", erhielt den Preis 2007. Während "jetzt.de" in längeren Artikeln gesellschaftlich relevante und politische Themen aufgreift, widmet sich Fudder eher den klassischen Jugendthemen und vor allem der Region Freiburg. Beiden ist gemeinsam, dass sie konsequent auf Nutzerbeteiligung setzen und sehr erfolgreich sind. An diesen Beispielen zeigt sich, was die eigentliche Qualität von Angeboten von Printprodukten im Internet sein kann: Keine einfache Abbildung dessen zu sein, was es schon als Printprodukt gibt. Hier soll vielmehr genau das stattfinden, was die Zeitung nicht leisten kann: Videos oder Audios, interaktive Elemente oder die vielfältigen Möglichkeiten der Nutzerbeteiligung.

Es gibt aber nicht nur den Weg von den traditionellen Medien in Richtung Internet – das Netz eignet sich genauso als Probierfeld für neue Angebote. Einer der Preisträger in der Kategorie Kultur und Unterhaltung des Jahres 2009 zeigt dies beispielhaft: Die charmanten Animationsfilme von "Tom und das Erdbeermarmeladebrot mit Honig" (www.kindernetz.de/tom) waren im Internet so erfolgreich, dass sie den Sprung ins Fernsehprogramm geschafft haben.

"Kritische Auseinandersetzung"

Andere qualitativ hochwertige Angebote können so nur im Internet existieren – kein anderes Medium könnte diese Qualitäten bieten. 2009 wurde in der Kategorie Information das Theaterkritik-Portal "nachtkritik.de" nominiert. Kritiken sind hier am Morgen nach der Premiere schon um 9 Uhr zu lesen. Und es gibt sonst wohl kaum einen Ort, an dem so heftig über Theater diskutiert wird wie in den Kommentaren dieser Website. Ein ähnliches Beispiel ist die 2008 in der gleichen Kategorie nominierte Website Netzpolitik (www.netzpolitik.org). Sie regt zur kritischen Auseinandersetzung mit den Zusammenhängen von Netzpolitik, Grundrechten und bürgerlichen Freiheiten an – und stößt so öffentliche Debatten an. Solch spezielle Themen können in den traditionellen Medien so konzentriert allein in Fachzeitschriften stattfinden, die aber diese Aktualität und vor allem die öffentliche Diskussion niemals erreichen können.

Die Interaktion mit anderen Nutzern ist auch das entscheidende Element der 2009 in der Kategorie Wissen und Bildung nominierten Website "dbna – du bist nicht allein" (www.dbna.de) und der 2008 in der gleichen Kategorie ausgezeichneten "kids-hotline" (kidshotline. de). Sie ermöglichen den Austausch unter Betroffenen. Die Site "dbna" richtet sich an schwule Jugendliche, "kids-hotline" bietet Hilfe für Jugendliche bei Problemen. Beide Websites nutzen die Anonymität des Internets, ermöglichen die Kontaktaufnahme, ohne gleich zu viel von sich preiszugeben, was die Hemmschwelle herabsetzt, bei Problemen überhaupt Hilfe anzunehmen.

Beide Angebote sind außerdem ein Beispiel dafür, dass nicht immer alle Bewertungskriterien – in diesem Fall war es das Design – erfüllt sein müssen, vor allem wenn die Websites von kleinen Anbietern kommen. Dies ist einer der Hauptkritikpunkte am Grimme Online Award: Große Anbieter würden bei der Auswahl bevorzugt. Ein Blick auf die Nominierten und Preisträger der vergangenen Jahre zeigt jedoch, dass hier ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Websites großer Firmen und solchen, die sogar von Einzelpersonen erstellt werden, besteht.

Die Jurys bemühen sich grundsätzlich, die Position des Nutzers einzunehmen und darauf zu achten, welchen Mehrwert die Website für den Nutzer hat, anstatt sich zu sehr von technisch ausgefeilten Lösungen und starkem Design beeindrucken zu lassen. Entscheidend ist, dass es eine Nominierung oder einen Preis beim Grimme Online Award nicht für "normale" Berichterstattung im Internet geben wird. Der Mehrwert, der durch das Internet entsteht, muss bei jedem Angebot erkennbar sein. Qualitativ hochwertige Websites im Sinne des Grimme Online Award sind also jene, die Inhalte bieten, die in den traditionellen Medien – insbesondere im Zeitungsjournalismus – gar nicht zu finden sind, dort auch gar nicht transportiert werden können. Somit ist das Internet als Erweiterung und Ergänzung der traditionellen Medien zu sehen, keinesfalls als Konkurrenz.


Vera Lisakowski (geb. 1973) ist beim Grimme Institut zuständig für den Grimme Online Award und arbeitet als freie Journalistin.

Link: Evangelische Akademie Tutzing

Weitere geplante Beiträge in der Reihe "Journalismus im Netz":

Freitag: "Fit für die Zukunft" von Ulrich Brenner (Leiter Deutsche Journalistenschule)