Von Trauer, Terrorismus und Normalität
Nach dem Amoklauf in Winnenden will die Bevölkerung zur Normalität zurückzukehren. Leicht ist das nicht. Einige Angehörige haben sich zu einem Aktionsbündnis zusammengeschlossen, um das Gedenken an die Opfer zu bewahren. Andere versuchen, die Erinnerung hinter sich zu lassen, haben genug vom "Trauer-Terrorismus".
10.03.2010
Von Cornelius Wüllenkemper

Die Gedenktafel für die Opfer des Amoklaufs in Winnenden ist nicht leicht zu finden. Nur wer das verlassene Schulgebäude der Albertville-Realschule umrundet und sich von der Rückseite nähert, findet die Tafel mit den Namen der Opfer, versteckt in einer Ecke unter einem Betonvorsprung. Unter den Namen steht das bekannte Saint-Exupéry Zitat "Man sieht nur mit dem Herzen gut…".

Einige ausgebrannte Kerzen und trockene Blumengestecke stehen auf dem Betonboden. Gesponsert ist die Tafel von "Körner Natursteine", einem in der Stadt ansässigen Unternehmen. Das verlassene Schulgelände ist aufgeräumt und sauber. Nur die Pausenklingel hat man vergessen abzuschalten: als sie um 15 Uhr das Ende des Nachmittagsunterrichts ankündigt, bleibt der Schulhof leer. Die Schüler werden in in einem Containerdorf nahe dem Sportplatz unterrichtet, in der Schule wird gebaut.

Geplantes Gedränge am Gedenktag

Die Erinnerung an den Amoklauf des Tim K. am 11. März 2009, dem in Winnenden und einem Nachbarort insgesamt 15 Menschen zum Opfer fielen, soll die Schüler der Albertville-Realschule nicht täglich belasten. Für 5,6 Millionen Euro wird ihr altes Schulgebäude gerade umgebaut, ein aufwändiges Sicherheitssystem wird installiert, verstärkte Jugendarbeit ist vorgesehen und speziell verriegelbare Türen. Zum Herbst 2011 soll der normale Unterrichtsbetrieb im Schulgebäude wieder aufgenommen werden. Eine Stadt wie jede andere ist Winnenden nicht mehr. Aber der ganze Ort scheint sich vor allem auf die Rückkehr zur Normalität zu konzentrieren.

Von den Medien hat man in Winnenden genug, man will zum Jahrestag nicht schon wieder in den Schlagzeilen stehen, man will Ruhe haben zur internen Bewältigung der Trauer. Das Bild des aufgeräumten kleinen Städtchens mit historischer Altstadt soll nicht länger von der Bluttat überschattet werden, aber das ist schwer: Zum Jahrestag des Amoklaufs erwartet die Stadt über 1.000 Gäster, Bundespräsident Köhler und der baden-württembergische Ministerpräsident Mappus haben sich zur zentralen Gedenkstunde vor dem Schulgebäude angekündigt. "Es wird sehr eng zugehen vor der Albertville-Realschule", kommentiert Oberbürgermeister Bernhard Fritz.

Trauer ist eine interne Angelegenheit

Zur Mittagszeit fährt die S-Bahn zwischen Stuttgart und dem nord-östlich gelegenen Backnang die Schüler der umliegenden Gemeinden zurück nach Hause. Nach Schulschluß wird geredet, was eben gerade wichtig ist: Schulaufgaben, Klausuren, "gestörte Lehrer", "süße Jungs". Als der Lautsprecher den Bahnhof Winnenden ankündigt, bricht das Gespräch einer Gruppe von Mädchen abrupt ab. Ironisch wiederholen sie den Namen der Stadt, so als wollten sie ihn nicht mehr hören. Über die Tat, die die Menschen im ganzen Land schockiert hat, spricht man nicht gern. Die Trauer und vielleicht auch die Scham sitzen tief, Winnenden war zuvor nur als Hauptsitz des Weltunternehmens Kärcher bekannt. In einer Stellungnahme der psychologischen Nachsorge der Betroffenen werden die Medienvertreter aufgefordert, den Menschen mit Respekt und Abstand zu begegnen und nicht "nach dem persönlichen Erleben vor einem Jahr" zu fragen, weil dadurch die "traumatischen Erfahrungen bei den Betroffenen wiederbelebt werden."

Trauer ist in Winnenden eine interne Angelegenheit, die Gedenkfeier am 11. März nur ein Teil des städtischen Lebens. Zwei Tage später wird zur "Kreisputzete – Bürgerengagement für eine saubere Stadt" aufgerufen. Für den 15. März kündigt die Volkshochschule Winnenden dann einen Vortrag zum Thema "Mit der Trauer weiterleben" an, am 17. März wird die Reihe fortgeführt mit dem Thema "Magen–Darm". Die Bewältigung der Trauer gehört in Winnenden mittlerweile zum Alltag.

"Trauer ins Leben integrieren"

Seit Monaten schon beschäftigt sich Reimar Krauß, Pfarrer der evangelischen Stadtkirchengemeinde, mit den Vorbereitungen des Jahrestages. "Früher ging man davon aus, dass die Trauer nach einer gewissen Zeit beendet wird. Heute glauben wir, dass man die Trauer ins Leben integrieren muß. Wir fragen, was man aus dem Unglück lernen kann". Gemeinsam mit der Arbeitsgemeinschaft christlicher Kirchen hat Krauß ein ökumenisches Programm entworfen: zur Tatzeit zwischen neun und zehn Uhr am Morgen wird es konfessionelle Gottesdienste geben, am Abend werden gemeinsame Messen gefeiert.

"Wir werden am Morgen zu einem meditativen Gottesdienst einladen. Das Thema Amoklauf soll nicht direkt erwähnt werden, denn der Jahrestag wühlt die Menschen schon genug auf. Wir werden Texte lesen vom lebensmüden Elija, der sich benachteiligt fühlt und keinen Sinn mehr sieht. Gott gibt ihm die Kraft, sein Werk zu vollenden". Für Krauß geht es vor allem um "offene Räume" in seiner Kirche, um Angebote, Ruhe und Zeit zu finden und um mit der eigenen Trauer umzugehen. Von Normalisierung mag er nicht sprechen, dafür treibe die Erinnerung an den Amoklauf die Menschen noch zu sehr um: "Da sucht jeder seine eigene Antwort."

Verblassende Erinnerung und "Trauer-Terrorismus"

Nicht jeder sucht diese Antwort allerdings für sich allein im Privaten. Kurz nach der Tat gründeten Eltern, Betroffene und die Kirchen das "Aktionsbündnis Amoklauf Winnenden", aus dem später die "Stiftung gegen Gewalt an Schulen" hervorging. Der Vorsitzende Hardy Schober, der Vater eines Opfers, hat Unterschriften gegen Gewaltspiele am Computer gesammelt, politische Eingaben formuliert und die Schaffung eines neuen Schulfaches "Sozialkompetenz" gefordert. Seinen Beruf hat er mittlerweile aufgegeben, denn seine neue Aufgabe ist die Erinnerung an die Schreckenstat vom 11. März. Trauer ist für ihn längst keine Privatsache mehr, man muß eben auch real etwas bewegen.

"Die Würde der deutschen Waffenschränke ist unantastbar" formuliert das Bündnis auf seiner Homepage. Die Verschärfung des deutschen Waffengesetzes vor einem halben Jahr ging ihnen nicht weit genug: Hätte Tim K.'s Vater keine großkalibrigen Waffen zu Hause gehabt, wären einige der Opfer vermutlich noch am Leben. Aber längst nicht alle in Winnenden sind mit der Arbeit der Initiative zufrieden. Manche sprechen sogar von "Trauer-Terrorismus". Die Leiterin der Albertville-Realschule Astrid Hahn meint, es sei gut, dass die Bilder langsam verblassen: "Wir wollen die Opfer im Herzen bewahren, aber auch den Blick in die Zukunft richten".

Auf dem Stadtfriedhof Winnenden verblassen langsam die Fotos und Briefe an die Opfer, die Angehörige an den Holzkreuzen angebracht haben. Auf einer Grabstätte liegt neben kleinen Engelsfiguren, einem frischen Rosenstrauß, vielen Herzen und einem Teddybär ein einfacher heller Stein, auf dem steht: "Genieße jeden Moment der bleibt, diese Zeit kehrt nie zurück."


Cornelius Wüllenkemper ist freier Journalist in Berlin. Sein Text erschien erstmals am ersten Jahrestag des Attentats (11. März 2010) auf evangelisch.de.